Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Wolfgang Engler/ Jana Hensel: Wer wir sind

Wolfgang Engler und Jana Hensel versuchen, ostdeutsche Befindlichkeiten zu ergründen

Eisberge im aufgewühlten Meer

Von Irmtraud Gutschke

Zwei Sachsen im Gespräch. Er: 1952 in Dresden geboren, Professor für Kultursoziologie und Ästhetik, bis 2017 Rektor der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“. Sie: Jahrgang 1976, in Leipzig aufgewachsen, schrieb für „Zeit“, „Spiegel“, „Welt“ und war eine Zeitlang stellvertretende Chefredakteurin des „Freitag“. Wolfgang Engler ist Autor zahlreicher vieldiskutierter Bücher, wie „Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land“ und „Die Ostdeutschen als Avantgarde“. Jana Hensel wurde vor allem mit „Zonenkinder“ und „Warum wir Ostdeutschen anders bleiben sollten“ bekannt. Ganz klein gedruckt über dem Impressum findet sich ein dritter Name: Maike Nedo, „Moderation und Bearbeitung des Gesprächs“.

Im Klartext heißt das: Sie hat ein Buch mit zwei Prominenten gemacht, gut ausgewählt für diesen Zweck, und tritt bescheiden hinter sie zurück. Wenn man also beim Lesen glauben mochte, schweigender Dritter in einem Gespräch unter vier Augen zu sein, war es in Wirklichkeit eine Talkshow, die sich hoffentlich auf diversen Veranstaltungspodien, vielleicht sogar im Fernsehen, fortsetzen möge. Ein aktueller Anlass dafür ist gerade mal wieder gegeben: Rechte Krawalle in Chemnitz. Die Sachsen! Die haben ja schon „Pegida“ geboren. Da dürfte dem Buch Medienaufmerksamkeit gewiss sein. Aber zunächst trifft es auf eine Einzelperson – die Leserin, den Leser.

Der Titel „Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein“ ist verkaufsträchtig, trotzig. Man könnte eine Erklärung der ostdeutschen Seele erwarten, die es so freilich nicht gibt. Dass da zwei aufrichtig über sich selbst Auskunft geben, über ihr Gewordensein und das, was sie als ihre Identität betrachten, bietet Stoff genug, sich selbst in Beziehung zu setzen, Übereinstimmungen ebenso wie Unterschiede zu entdecken: Wer bin ich? Was erstrebe ich? Wovor fürchte ich mich? Was sind die Zusammenhänge, in denen ich mich befinde? Zu solchen Fragen und Erkenntnissen kann die Lektüre durchaus beitragen. Mal fühlt man sich auf spannungsvolle Weise in ein Gespräch gezogen, dann wieder geht es an einem vorbei, was an der eigenen Gestimmtheit liegt, den Erwartungen, die man hat.

Es gehört zu Mediengesellschaft in der wir leben, dass wissenschaftlich Analytisches zugleich meinungsstark hervortreten muss, um über einen engen Spezialistenkreis hinauszuwirken. Ohne Skandalisierung geht es nicht. „In Ostdeutschland wurde die AfD vor der Linken zweitstärkste Kraft“, stellt Wolfgang Engler fest, fügt dann allerdings hinzu, dass die AfD „selbst in Baden-Württemberg, im westdeutschen Musterländle“ nach CDU und Grünen drittstärkste Partei geworden ist. Allerdings haben die Rechtspopulisten in den neuen Ländern doppelt so viele Stimmen bekommen wie in den alten. Das ist sozusagen der „Aufhänger“, um sich, zu Recht, gerade mit ostdeutschen Erfahrungen zu beschäftigen, wobei diese – dessen sind sich beide Gesprächspartner bewusst – für vielbeschäftigte Intellektuelle doch andere sind, als für Menschen, die durch den Systemwechsel an den sozialen Rand gedrängt wurden.

Eine „quasi-migrantische Erfahrung“ nennt es Jana Hensel. Wolfgang Engler meint, dass „Absturz- und Verlusterfahrungen“ zu einem „Zusammenhangsgefühl“ führten, das es zu DDR-Zeiten so gar nicht gab. Damals habe das „Vergessen privateigentümlicher Grenzen und Zuständigkeiten… das Selbstgefühl, die Beziehungen zwischen Arbeitern und Vorgesetzten, Frauen und Männern auf eine Weise“ verändert, „die tatsächlich Neues zutage förderte, Geschlechter-, Standes- und Klassengrenzen abschliff, jeder und jedem aufgrund der unantastbaren Stelle ein eigenes Leben ermöglichte und das Gefühlsleben aus seiner Einbettung in Nützlichkeitserwägungen löste“. Das sei „Vorschein einer neuen Art des Lebens und Zusammenlebens“ gewesen. – Freilich, ein Vorschein nur.

„Wind of Change“ – bis heute habe ich die betörende Hymne der „Scorpions“ im Ohr. Ein machtvoller Trivialmythos, der damals ganz und gar dem Fühlen vieler Menschen in Osteuropa zu entsprechen schien. Oder es auch prägte. Perestroika – Umbau der Verhältnisse zu etwas Besserem – so verstand ich es damals; heute lässt mich der Titel an „regimechange“ denken. Das Lied feierte die Romantik des Aufbruchs. Voller Neugier ins Offene gehen! Wobei der Hoffnung auf Gewinn, der noch kaum Angst vor Verlusten innewohnte. Zu dem, was man hatte – garantierte Arbeitsplätze, billige Mieten, weibliche Gleichberechtigung usw. – , sollte Entbehrtes hinzukommen: Reisen in die weite Welt, grenzenlose Konsumversprechen, Meinungsfreiheit. Aber haben die Ostdeutschen nicht schon in der Schule gelernt, was Kapitalismus bedeutet, wunderte sich jüngst ein Kollege aus dem Westen. Eine Lehre auch für heute: Wenn man Leuten etwas eintrichtern will, kommt es ihnen bald zu den Ohren heraus, während DDR-Bürgern angesichts der Reklame im Westfernsehen die Augen übergingen. Sie hatten einen anderen Kapitalismus im Auge als den, den sie dann bekamen, jene soziale Marktwirtschaft, die vielen Westdeutschen einen Wohlstand beschert hatte, der im Osten nicht mehr aufzuholen war.

Wolfgang Engler: „In allen vom Neoliberalismus umgegrabenen Gesellschaften haust massenhafte Wut.“ Ein starker Satz. „Der Neoliberalismus hat den Rechtspopulismus nicht nur ideologisch vorbereitet, sondern auch…“ Jana Hensel: „… für die nötige gesellschaftliche Entsolidarisierung gesorgt.“

Darum geht es, das ist das Kernproblem, dass der „Klassenkompromiss“ schon lange vor dem Ende der DDR im Westen aufgekündigt worden ist und nun „viele der zu Recht Empörten Fürsprecher wählen, die ihnen zwar zu ihrem Ausdruck, aber nicht zu ihrem Recht verhelfen“. Führt man diesen Gedanken weiter (was hier nicht geschieht) sind Bewegungen wie die AfD im Sinne des neoliberalen Systems – zunächst als Blitzableiter und für den Notfall, sollte es zu großen sozialen Protesten kommen, auch als Waffenarsenal. „Die Ostdeutschen bekamen etwas, das sie so nicht bestellt hatten“, sagt Engler.– Was sich unter anderen Vorzeichen durchaus wiederholen kann, meine ich.

Zu Recht sieht Wolfgang Engler eine Gefahr darin, „wenn man die deprimierenden Erfahrungen der Menschen nicht ernst nimmt und dem Übel an die Wurzel geht. Das heißt, die Systembedingungen in Frage stellt, unter denen diese Erfahrungen gemacht wurden“. Jana Hensel: „Und in der Konzentration auf den Zuzug von Flüchtlingen hat man sich ein leichtes Opfer gesucht, man versucht mit einer Rebellion die Rebellion zu vermeiden.“ Das ist ein Satz, der es in sich hat, der nach Vertiefung ruft, aber das Gespräch dreht sich schnell weiter zu den gut sanierten ostdeutschen Innenstädten, in denen meist Westdeutsche Eigentümer sind. Auch wichtig: „Der Citoyen wechselte, ohne sich dessen recht bewusst zu werden, in die Rolle des Klienten, des Transferempfängers.“ Und weiter mit Wolfgang Engler: „Das ökonomische Startkapital der Ostler nahm sich sehr bescheiden aus.“ Aber auch im Westen werden die „Komfortzonen brüchig… Viele, zu viele, die vor gar nicht so langer Zeit die Zumutungen der Welt noch abpuffern konnten, stehen jetzt mit dem Rücken zur Wand.“

Immer wieder finden sich solche Sätze im Buch, die man sich anstreicht, die man sich merken möchte. Wie Eisberge ragen sie aus einem aufgewühlten Meer. Denn die Lektüre trifft ja auf eine Erregung, die im Osten tatsächlich eine Spezifik hat. „Die innerdeutschen Ressentiments sind eines der größten Tabus unserer Gesellschaft“, sagt Jana Hensel, „keine der beiden Seiten gibt wirklich zu, wie groß die Vorurteile wirklich sind.“

Da hätte die Moderatorin weiterfragen sollen. Im Nachhinein leicht gesagt. Es wäre ein noch viel brisanteres Buch geworden, aber wer in die Breite wirken will, wird sich diesbezüglich womöglich zügeln. Auch besteht bei einem Gespräch immer die Möglichkeit, dass es verplätschert, dass die Partner vom Hundertsten ins Tausendste kommen. Warum hier zum Beispiel der Streit um Eugen Gomringers Gedicht an der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin nochmal so ausführlich aufgewärmt werden musste? Manches ist obsolet, anderes fehlt. Ein Bewusstsein dafür, in welchem internationalen Kräfteverhältnis sich die DDR befand und wie dieses heute beschaffen ist, dürfte den Gesprächspartnern durchaus selbstverständlich gewesen sein, nur äußert es sich nicht. Gab es womöglich Ecken und Kanten, die abgeschliffen worden sind zwecks leichterer Verdaulichkeit?

Die von Jana Hensel geäußerte Kränkung, dass „die ostdeutsche Erfahrung gar nicht als wert empfunden wird, repräsentiert zu sein“, wird sich mit einem solchen Buch zwar nicht heilen lassen, aber immerhin mal wieder ins Gespräch kommen. Sicher hat sie recht, dass Pegida und AfD, gerade im Osten, im Grunde Ausdruck einer „umfassenderen Systemkritik“ sind. Was für eine Aufgabe für die Linken, die hier der Vorwurf trifft, den Zulauf zur neuen Rechten nicht gebremst zu haben. „Da muss man Zähne zeigen“, sagt Wolfgang Engler, „die Wurzeln des verbreiteten Unmuts ausgraben und skandalisieren, und ja, die geheiligten Rechte des Eigentums profanieren, sich an der Systemfrage vergreifen… Dann mobilisiert man Menschen, die nie auf die Idee kämen, links zu wählen. Weil es jetzt um mehr geht als um defensive Ziele, um zu bewahren, zu retten, was zu retten ist vom Wohlfahrtsstaat. Vielmehr um das große Ganze, von existenziellen Fragen her aufgeblättert. Gerade das unterbleibt… Glücklich darüber, endlich einmal mitspielen zu dürfen im Konzert der Demokraten, verschlug es der Linken den Mut… Was stattfand war zahnlos, vegane Politik.“

Die Frage ist nur, was geschieht, wenn die Linke wirklich Zähne zeigt, ob die neoliberale Macht die Demokratie opfert, wenn sie ernsthaft angegriffen wird. Kleinmütige Bedenken? Was Wolfgang Engler zur Perspektive von Kulturschaffenden sagt, dass sie zur Überbetonung der eigenen Freiheiten neigen und zum Ausblenden der Nöte anderer“, ist jedenfalls den beiden Gesprächspartnern nicht vorzuwerfen.

„In allen vom Neoliberalismus umgegrabenen Gesellschaften haust massenhafte Wut.“

Wolfgang Engeler/ Jana Hensel: Wer wir sind: Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein. Aufbau Verlag, 288 S., geb., 20 €.

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