Die Gabe der Erleuchtung
„Ruhen in Gott“ Volker Leppin schrieb eine Geschichte der christlichen Mystik
Irmtraud Gutschke
Der Begriff Mystik lässt manche vielleicht an etwas Dunkles denken, etwas, das einem nüchternen Blick auf die Welt entgegensteht. Einige betrachten heute schon jegliche Religion als Mystik, wohingegen es sich dabei doch um einen besonderen Bereich der Religion handelt, der immer auch von Klerikern bekämpft worden ist. Denn bei der mystischen Erfahrung eines direkten Kontaktes mit Gott handelt es sich eben um etwas ganz Persönliches, das keine Vermittler braucht, sich auch im Schweigen abspielt, das schwer kommunizierbar ist und wenn es geschieht, mystisch begabte Menschen über die Menge hinaushebt, die ihnen Verehrung entgegenbringt oder sie, im Gegenteil, verteufelt.
„Verfolgungen und Hinrichtungen ziehen sich durch die Geschichte der christlichen Mystik“, schreibt Volker Leppin in der Einleitung seines dicken Bandes. „Mystik gilt als etwas Gefährliches. Gefährlich für das kirchliche Amt, gefährlich für die christliche Lehre, gefährlich für den biblischen Glauben. Gefährlich, weil sie Grenzen überschreitet …“ Übliche Formen der Frömmigkeit werden transzendiert, wenn „sich im Individuum eine exzeptionelle Nähe Gottes ereignet“. Es ist eine „innerliche Erfahrung“, die von „äußerster Entrückung“ begleitet sein kann. „Mystische Texte teilen die Schwierigkeit von Liebesgedichten. Sie wollen etwas mitteilen, was im Letzten gerade nicht mitteilbar ist, weil es hochgradig individuell ist.“ Und deshalb, wie gesagt, können sie diejenigen Menschen auch verschrecken, die ihre innere Sicherheit an eine rational durchschaubare Wirklichkeit binden. Die Abwehrreaktionen kirchlicher Institutionen gegen möglichen Machtverlust kommen hinzu.
Aber ist nicht auch Jesus Christus, wie er in der Bibel lebendig wird, ein Mystiker gewesen, der sich in direkter Zwiesprache mit Gott fühlte? Als Repräsentant einer innerjüdischen Erneuerungsbewegung wird er vom Autor dieses Buches gesehen wie auch Paulus, der im Zusammenhang mit der „dogmatischen Normierung des Christentums“ dann als übermächtige Gründerfigur erschien. Tatsächlich war die christliche Gemeinde für ihn etwas wie eine Gegenwelt: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann oder Frau, denn ihr seid allesamt einer in Jesus Christus.“ (Gal 3,28)
Wichtige Feststellung: „Wer sich die christliche Verkündigung der ersten Jahrhunderte vorstellen will, muss Bilder des einundzwanzigsten Jahrhunderts weit hinter sich lassen.“ Schon in ferner Zeit taten sich Unterschiede auf, die bis heute fortwirken: zwischen der Vorstellung von einem menschgewordenen Gott, „der in der Krippe gelegen und an einem Kreuz gestorben war“ oder einem Gott, der „eigentlich geistig“ ist und somit „im einzelnen Menschen gegenwärtig sein kann“. Von Jesus und Paulus ausgehend, führt uns Volker Leppin nun Schritt für Schritt durch die Geschichte des Christentums, die immer auch eine Geschichte der Suche war. Von der Antike bis nach Byzanz, Streit um Bilder, Askese und Mönchtum, wobei Klöster oft tatsächlich zu Orten mystischer Spiritualität werden konnten, denn sie waren Orte der Kontemplation und Deutung. Ausgehend von ihren Gründern, wurde dabei auch Persönliches eingebracht (wie Benedikt von Nursia eine „Vergeistigung des Lebenswandels“ wollte, die zudem „mit frohem Herzen geschehen“ sollte). Ausführlich gewürdigt werden Pseudo-Dionysius Areopagita, ein namentlich nicht bekannter christlicher Autor des frühen 6. Jahrhunderts und Bernhard von Clairvaux, der sich besonders für die Deutung des Hoheliedes als Beschreibung der Liebe zwischen Christus und der liebenden Seele interessierte und dabei die Möglichkeiten erotischer Anspielungen ausreizte. Zugleich hat er den Krieg gegen die „Ungläubigen“ gepredigt. Ein Widerspruch? „Die Sprache der Liebe, mit der er diese beschreibt, hatte er ebenso am adligen Hof gelernt wie die Instrumente der Macht, die er so gnadenlos zu handhaben wusste.“
Genau bis zur Einfühlsamkeit porträtiert Volker Leppin die einzelnen Personen, die auf die Geschichte der Mystik Einfluss hatten. Hildegard von Bingen, die ihr eigenes Kloster gründen konnte und für die der Glaube „die mystische Erfahrung und Existenzweise par excellence“ gewesen ist, trifft heute auf große Resonanz, ungeachtet dessen, dass sie den Geschlechtsmustern der mittelalterlichen Kirche anhing. Ein Kapitel gilt auch der Liebesmystik der Beginen, ein anderes unter anderem Mechthild von Magdeburg und ihrem Buch „Das Fließen des Lichts“. Da konnte sie nicht sagen, „ob das Himmelreich sich zu mir herabneigte oder ob ich in das herrliche Haus Gottes emporgezogen wurde“. Überhaupt die Frauen: „Mechthild von Magdeburg und die Schwestern Mechthild von Hackeborn und Gertrud von Helfta gingen an die Grenzen des Sagbaren und Erlaubten.“ Wie auch Marguerite Porete, die 1310 auf dem Scheiterhaufen endete. Waren Frauen in ihrer unterdrückten Rolle vielleicht besonders herausgefordert, zu Liebenden Christi und zu Seherinnen zu werden?
Das Personenregister dieses Bandes umfasst acht enggedruckte Seiten. So unterschiedliche Charaktere und Lebenswege wie die von Franz von Assisi, Bonaventura, Nikolaus von Kues, Meister Eckart, Ignatius von Loyola, Teresa von Ávila, Jacob Böhme, um nur einige zu nennen, duften nicht fehlen. Selbst Luther griff zu Teilen auf ein mystisches Erbe zurück. Und das Versprechen der Aufklärung hatte ebenso wie das der Mystik mit Licht zu tun, wobei da eine ganz andere Art von Erleuchtung versprochen war. Aber die Mystik lebte fort in der Sehnsucht, über Bekanntes hinauszugehen, etwas Größeres zu erfahren, sich neuer Erfahrung zu öffnen. Nicht verschwiegen wird auch, dass die Mystik im 20. Jahrhundert zu einem Instrument für Gegner der Moderne werden konnte – ausgenutzt auch von der Nazi-Ideologie. Aber man darf auch aufrechte Humanisten wie Albert Schweitzer, Thomas Merton, Ernesto Cardenal oder Dorothee Sölle nicht vergessen, die mit ihrem Buch „Mystik und Widerstand“ einen Bogen schlug zu revolutionären Bewegungen der Gegenwart.
Volker Leppin ist ein überaus materialreicher und tiefgründiger Band zu danken, der zwar im Rahmen der christlichen Mystik bleibt, für mich selbst aber zusätzlich interessant ist, weil sich dieses Phänomen auch in anderen Religionen findet. „Christen sind Bürger zweier Reiche: Himmel und Erde, Diesseits und Jenseits“, schreibt Volker Leppin. Nicht nur Christen, so ist hinzuzufügen, vielleicht nehmen sie es nur deutlicher war. Und für die mystisch Begabten unter ihnen – ich betrachte es als eine Gabe – wird die Erfahrung so zwingend, dass ihnen die Normalität eines auf strenge Rationalität und Regelhaftigkeit basierenden Lebens als etwas Reduziertes erscheinen muss. Die Ahnung, dass da etwas Größeres ist als wir, das Staunen darüber muss nicht einmal an ein Gottesbild gebunden sein.
Volker Leppin: Ruhen in Gott. Geschichte der christlichen Mystik. C.H. Beck, 476 S., geb., 32 €.