Pillen gegen das Unglücklichsein?
Von Irmtraud Gutschke
Gegen Ende des Buches führt der Berliner Psychotherapeut Thorsten Padberg ein für ihn ernüchterndes Gespräch mit Eva Illouz. Die berühmten israelische Soziologin bemängelt ein „zu optimistisches Bild vom Menschen“, von dem störungsfreies Funktionieren erwartet wird. Wir haben es verlernt, „dass es so etwas wie unverdientes, ungerechtfertigtes Leid gibt“. Stattdessen verlangen wir, in einer „psychotherapeutisch aufgeklärten“ Gesellschaft, dass die Betroffenen an sich selber arbeiten, statt die gesellschaftlichen Ursachen dieses Unwohlseins aufzudecken.
Gesellschaftliche Ursachen gibt es viele: Bedrückende Arbeitsverhältnisse, Ungerechtigkeit, Kränkung durch eine Lebenslage, die man anders erhoffte. Und hinzu kommen ganz private Umstände. Einer einsamen Frau kann man den verstorbenen Mann nicht zurückgeben, einem Mann nicht die Frau besorgen, die ihm Geborgenheit geben würde. Wir seien unfähig geworden, echtes Mitgefühl zu empfinden – darin hat Eva Illouz sicher Recht. Aber unser Gesundheitssystem ist nicht so, dass es für menschliche Zuwendung viel Raum bieten könnte. Immerhin: Die gesetzlichen Krankenversicherungen übernehmen die gesamten Kosten einer Psychotherapie, wenn eine seelische Erkrankung bzw. eine Störung „mit Krankheitswert“ vorliegt. Beispiele hierfür sind Angststörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen und Suchterkrankungen.
Dass die Depressionen schon bald die weltweit häufigste Krankheit sein könnte, hat Padberg zu diesem Buch veranlasst. „Fast 10 Prozent aller Deutschen leiden im Laufe eines Jahres an Depressionen… Die WHO spricht von 350 Millionen Menschen weltweit. Dagegen werden immer mehr Antidepressiva verordnet. 2018 seien es fast 1,5 Milliarden Tagesdosen gewesen. Die Pharmaindustrie mag es freuen. Dass Ärzte mit Antidepressiva so schnell zur Hand sind, treibt den Autor um. Dass diese häufig nicht mehr bewirken als ein Placebo, zudem Nebenwirkungen haben und schwer absetzbar sind, legt er detailliert dar. Wobei ihm durchaus einleuchtet, warum Betroffene lieber Abhilfe in Pillen suchen als sich auf eine Gesprächstherapie einzulassen. Sie hoffen auf eine schnelle Lösung ihrer Probleme, zumal unsere Gesellschaft generell technischen Lösungen den Vorzug gibt. Es ist eine Beruhigung für sie, dass sie nicht als Person gestört, gar verrückt sind, sondern dass es an einem Fehler in der Gehirnchemie liegt, der korrigiert werden kann, dass ein Medikament die Lösung ist.
„Das macht Antidepressiva zu so erfolgreichen Placebos. Sie helfen uns, uns gegen Vorwürfe zu Wehr zu setzen, die den Fehler im Zweifel immer bei uns selbst suchen.“ Aber durch die Einnahme solcher Mittel würde ein abnormaler Zustand im Gehirn erst herbeigeführt. „All die Symptome, die wir früher als Zeichen von Trauer, Niedergeschlagenheit und Frustration angesehen hätten, wie sie das Leben immer mal wieder mit sich bringt, werden plötzlich mit dem Konzept einer sehr schweren, psychischen Krankheit vermischt.“ Doch wäre die Depression nicht offiziell als Krankheitsbild anerkannt, das professionelle Hilfe notwendig macht – „wie etwa eine Krebskranke eine Chemotherapie braucht“ – würden viele Menschen allein im Regen stehen, müssten einen Therapeuten wohl aus eigener Tasche bezahlen, was viele nicht könnten. Dass viele schon mit der Selbstdiagnose Depression in die Praxis kommen, liegt an der medialen Beschäftigung mit dem Problem. Aufklärungskampagnen über Depressionen hätten dazu geführt, dass Menschen sich noch häufiger krank fühlen? Klar, auf andere Weise gelingt es ihnen doch nicht, Hilfe zu suchen. Sie bekämen nicht einmal eine Krankschreibung.
So lebendig, ja geradezu unterhaltsam dieses Buch geschrieben ist, kann es nur empfohlen werden. Ob bei sich selbst oder bei Angehörigen, mit dem Thema Depression haben viele zu tun. Thorsten Padberg hat ausgiebig recherchiert, mit zahlreichen Experten gesprochen und erzählt zudem auch von Fällen aus seiner Praxis, die wohl den zusätzlichen Zulauf nötig hat, den dieses Buch mit sich bringt..
Es ist hervorzuheben, dass auch die Bedingungen beschrieben sind, die krank machen können. „Das Klettern auf der Erfolgsleiter ist alles andere als stressfrei.“ Könnte es sein, dass in Zeiten der Vereinzelung der Therapeut eine notwendige Bezugsperson ist, von der man wenigstens etwas Zuwendung erfährt? Ein Seelsorger sozusagen. Wichtige Feststellung: „Psychotherapie stopft die Löcher, die anderswo gerissen werden. Es ist die Gesellschaft selbst, die zur Depressions-Falle wird.“
Doch welche Alternativen gibt es? Man kann dem Autor nur dankbar sein, dass er in aller Ehrlichkeit nicht so tut, als hätte er den Stein der Weisen gefunden. Er kritisiert den medikamentenzentrierten Ansatz nicht in Bausch und Bogen, spricht sich aber zugleich für soziale Prävention aus. Dass insbesondere Arbeitsstress, Gewalterfahrungen, soziale Ungleichheit, Einsamkeit und Erwerbslosigkeit den Hintergrund für Depressionen bilden können, ist unumstritten. Doch um daran etwas zu ändern, wäre eine gesellschaftliche Entwicklung nötig, die gegenwärtig nicht absehbar ist. „Als Psychotherapeut setze ich auf die befreiende Wirkung des Gesprächs.“ Freundlich, offen schaut er uns vom Klappentext entgegen.
Thorsten Padberg: Die Depressions-Falle. Wie wir Menschen für krank erklären, statt ihnen zu helfen. S. Fischer Verlag, 241 S., geb., 23 €.