Lauter Pyrrhussiege
Stefan Weidner analysiert die Reaktion auf 9/11 als Beginn vom Ende einer Weltmacht
Von Irmtraud Gutschke
„Noch einen solchen Sieg über die Römer, dann sind wir vollständig verloren!“ Welch bittere Voraussicht: König Pyrrhos I. von Epirus hatte wohl eine Schlacht gewonnen, aber die Verluste waren groß. Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich: Im Pyrrhischen Krieg zwischen 280 bis 275 v. Chr. war er letztlich doch den Römern unterlegen. Seitdem spricht man vom „Pyrrhussieg“, wenn ein momentaner Sieger letztlich mehr Schaden als Nutzen hat. Immer wieder in der Geschichte hat es dafür Beispiele gegeben. Im Buch von Stefan Weidner findet sich eine geradezu groteske Abfolge davon.
Stefan Weidner schrieb dieses Buch, als der Abzug der US-Truppen aus Afghanistan beschlossen, aber noch nicht auf dermaßen chaotische Weise vollzogen war. Donald Trump, der selber auf ein Ende des Militäreinsatzes gedrängt hatte, sprach nun von „totaler Kapitulation“, der größten außenpolitischen Demütigung in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Wenn dies auch als Polemik gegen seinen Amtsnachfolger Joe Biden gedacht war, traf es doch die Wahrnehmung vieler Menschen in der Welt. Der Imageverlust war enorm. Die USA, die 1989 über ihren Konkurrenten UdSSR triumphierten und sich als einzige Weltmacht sahen, werden diesen Platz räumen oder zumindest mit anderen teilen müssen.
Die Aschewolke, die sich „nach den Terroranschlägen vom 11. September 2011 aus den Trümmern des World Trade Centers erhob und durch die Straßen Manhattans wälzte“, vergleicht Stefan Weidner mit der berühmten Geschichte vom Geist aus der Flasche aus „Tausendundeiner Nacht“. Der Fischer im Märchen besinnt sich auf seinen Verstand, und es gelingt ihm, den Dämon der Zerstörung in die Flasche zurück zu locken. Aber die Rauchwolken aus New York breiteten sich immer weiter aus, traumatisierten, manipulierten, riefen nach Rache. Osama bin Laden, der 2011 getötete mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge, schien mit seiner radikalen, aggressiven und kompromisslosen Weltsicht den Westen angesteckt und zugleich gespalten zu haben, meint Stefan Weidner. Aber lag eine militärische Einmischung im Nahen Osten nicht ohnehin in der Absicht der USA, war die Reaktion auf 9/11 vielleicht mehr als nur notgedrungen? Der „Krieg gegen den Terror“ rechtfertigte fortan fast jedwede Gewalt in fremden Regionen, aber auch im eigenen Land.
Stefan Weidner hat Islamwissenschaften, Philosophie und Germanistik studiert, sich als literarischer Übersetzer und vor allem auch als Kenner der islamischen Welt und ihrer Literaturen einen Namen gemacht. Mit seiner kraftvollen, mitreißenden Sprache sorgt er in diesem Buch für geradezu spannende Lektüre. Auf faszinierende Weise spannt er ein Netz von Zusammenhängen auf, die einem gar nicht so gegenwärtig waren und sind. Zur Vorgeschichte von 9/11 gehört das koloniale Erbe, gehört auch die Rolle des Islam im antikolonialen Widerstand. Im Ergebnis des Ersten Weltkriegs sahen die USA, einst selbst britische Kolonie, im Zerfall des Osmanischen Reiches die Gelegenheit für eine neue Weltmachtrolle. Willkürliche Grenzziehungen zwischen neu etablierten Staaten (Libanon, Syrien, Irak, Palästina, Transjordanien), die Briten bzw. Franzosen als ihre Einflusszonen betrachteten, trugen schon die Saat künftiger Konflikte in sich. 1948 wurde Israel gegründet.
Auf der anderen Seite unterstützte die Sowjetunion sozialistische Bewegungen und gewann Verbündete – in Algerien, Libyen, Ägypten, Syrien, Irak, in der PLO, in Südjemen und in Tunesien. Im Gegenzug setzten die USA auf korrupte arabische Monarchien, vor allem in Saudi-Arabien, den ölreichen Emiraten, Marokko und auf den iranischen Schah. Indem sie gegen die angebliche sozialistische Gefahr den radikalen Islam unterstützten, züchteten sie sich sozusagen ihre künftigen Feinde heran. Auch Osama bin Laden, aus einer wohlhabenden saudischen Unternehmerfamilie stammend, hatte ja Verbindungen nach Saudi-Arabien, in westliche Länder ebenso wie in die USA. Im Afghanistan-Krieg, mit dem die Moskauer Führung die durch einen Putsch in Kabul an die Macht gekommenen Kommunisten stärken wollte, unterstützte er den Djihad gegen die Sowjets, so wie die USA die Mudjaheddin aufrüsteten.
Politischen Wendungen in allen Einzelheiten folgt man beim Lesen. Bemerkenswert, wie dabei immer wieder ein Muster zu erkennen ist, das sich, grob gesagt, mit einem Sprichwort beschreiben lässt: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Hochmut kommt vor dem Fall: Politische Akteure, die besonders schlau und durchsetzungsstark sein wollten, standen am Ende dumm da, weil sie die Gegenreaktionen unterschätzten, weil sie nur auf Sieg setzten und zu dialektischem, langfristigem Denken nicht in der Lage waren. „Wir können uns getrost von allen Lösungen verabschieden, die als pauschale, zumal als radikale daherkommen“, resümiert Stefan Weidner. Mit dem „War on Terror“ aber war „ein uneinlösliches Heilsversprechen“ verknüpft.
Wie hätten die USA indes auf 9/11 reagieren sollen? Die Anschläge hatten zu einer tiefen Erschütterung des Grundvertrauens in die eigenen Institutionen und die Regierung geführt. Mit einem Mal war es möglich, die Erfolgserzählung der USA „nicht mehr zu glauben“. Dagegen wollte die Bush-Administration Stärke zeigen – nach außen wie nach innen, wo mit Hilfe des „Patriot Act“ Bürgerrechte massiv eingeschränkt wurden. Stefan Weidner: „Das Gefühl von Bedrohung stabilisiert und verfestigt ein System …“ Wobei, so sei hinzugefügt, es nicht so sehr ums Fühlen geht wie um eine seit längerem schon bestehende sozialökonomische Krise, die zu politischen und wirtschaftlichen Aggressionen nach außen führt und zu immer härteren Frontlinien nach innen. Tendenzen zu in sich geschlossenen, verfeindeten Weltbildern lassen sich auch hierzulande leicht ausmachen.
Indem 9/11 wie „eine Ermächtigung, wie ein Freifahrtschein“ wirkte, „um unvernünftig zu sein, intolerant, aggressiv, autoritär – auf die Bush-Regierung ebenso wie auf die für das Ressentiment empfänglichen Normalbürger“, hat das eigene System Schaden genommen, so des Autors Diagnose. „9/11 setzte die USA schachmatt, ohne dass sie es begriffen.“ Der 20-jährige Krieg in Afghanistan, die Irak-Invasion und die damit in Zusammenhang stehende Syrien-Mission, die von ihm im Einzelnen betrachtet werden, bewiesen das Scheitern der neoimperialen Idee, durch die Verbreitung der liberalen Demokratie amerikanisch-westlicher Prägung die Welt irgendwie sicherer zu machen. Im Gegenteil, durch aggressive Politik wurde der Mythos des Westens vollends entzaubert.
Steckt uns womöglich immer noch der Missionierungswunsch in den Knochen, andere Völker mit unseren Lebensvorstellungen zu beglücken? Aber von der Utopie eines zivilisatorischen Fortschritts können wir uns doch nicht verabschieden? Andererseits, lässt sich Universalismus überhaupt noch gewaltfrei denken? Trifft auch europäische „Wertepolitik“ vor diesem Hintergrund auf eine Grenze?
Wie demokratisch und liberal kann die neoliberale Weltordnung sein? Welches Potenzial besitzt sie noch zur Lösung grundlegender Menschheitsprobleme? „Wir befinden uns auf dem Weg zu einer neo-feudalen, neo-oligarchischen Weltgesellschaft“, meint der Autor. Osama Bin Laden und seine Terroristen haben den Weg dorthin „freigeschossen“.
Stefan Weidner: Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart. Hanser. 256 S., geb., 23 €.