Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Stefan Schomann: auf der Suche nach den wilden Pferden

Wiedergutmachung

Stefan Schomann war „auf der Suche nach den wilden Pferden“

Von Irmtraud Gutschke

Das Buch beginnt in der Mongolei an der Grenze zu China, wo der Schweißer Nyamsuren sich erinnert, als Kind mit seinem Großvater inmitten einer Herde von Wildeseln ein Pferd erspäht zu haben. „Tachi!“, staunte der Alte und flüsterte dem Enkel zu, dass diese Steppenbewohner kaum noch zu finden seien. Später aber war Nyamsuren bei der Landung eines „Antonow“-Flugzeuges dabei. Das Foto auf dem Vorsatzpapier zeigt, wie Pferde aus den Kisten steigen und die angestammte Heimat in Besitz nehmen.

Noch erstaunlicher ist das Bild auf dem Nachsatzpapier: Vor dem Sarkophag des Reaktors von Tschernobyl grasen Przewalski-Pferde. Mit vielen anderen Tieren – Bären, Luchsen, Wölfen – wurden sie in der „Zone“  angesiedelt. „Ein Elch watet im Kühlsee“, schreibt  Stefan Schomann, der „auf der Suche nach den wilden Pferden“ auch dorthin kam. Ein Katastrophenort als Biotop? Dieses Buch ist eine Reise ins Unbekannte, eine Erzählung von Abenteuern, packend aus des Autors eigener Erfahrung. Lesend gelangt man an Orte, von denen hierzulande kaum jemand hörte: Biidsch, Prypjat, Saissan, Baty, Chowd … Bei den Wanderhirten in der Steppenwüste Gobi erleben wir ein Volksfest, wo Menschen die Erde mit Stutenmilch benetzen und einen Gruß gen Himmel schicken. „Kumys zu Kosmos. Kosmos zu Kumys. Auch Öl, Blütenblätter, Räucherwerk und Kekse sollen die Geister erfreuen.“ Das Innere Asiens: Der 1962 in München geborene Autor will Grenzen überwinden, auch solche, die wir in unseren Köpfen haben. Mit Russland, Kasachstan, Kirgistan, der Mongolei, China leben wir auf einer Erdplatte: Eurasien. Wir sind nur ein kleiner Teil davon, auch wenn wir uns als Zentrum wähnen. In den unendlichen Weiten der Gobi spürt Stefan Schomann, wie die Erde „brummt“ (was sogar messbar ist). „Sie klingt und schwingt ja immer, es wird nur von vielerlei Alltagsgeräuschen, von der Beschallung durch Medien, von inneren Spannungen und vom Grundrauschen der Zivilisation überlagert.“

Den Einstieg in die Höhle von Lascaux in der Dordogne, bei dem es 17 000 Jahre in die Tiefe der Zeiten geht, erlebt er wie eine Initiation. Für unsere fernen Vorfahren sind Tiere ja nur Jagdbeute gewesen. Über ihre mögliche Ausrottung haben sie sich keine Gedanken gemacht. Wobei der Mensch das Pferd von Anfang an bewundert hat. Weil es Maskulines und Feminines ausstrahlt, wie ein französischer Forscher meint, Kraft und Überlegenheit ebenso wie Grazie und Sensibilität? Die ältesten Pferdedarstellungen sind 35000 Jahre alt, die frühesten Hinweise auf eine Domestikation allenfalls 6000.

„Pferdegeschichte ist Menschheitsgeschichte.“ Spürbar hat Schomann selber Spaß an seinem „kulturhistorischen Husarenritt von der Prähistorie bis in unsere Tage“. Wie er seine Recherchen mit Selbsterfahrenem verbindet, wie er sich von der eigenen Sprachkraft mitreißen lässt, macht seine Kunst als Autor aus. Auf packende Weise folgt er den Steinzeitnomaden ebenso wie den Reiterheeren des Dschingis Khan, begibt sich auf die Spuren diverser Forschungsreisender wie Alfred Brehm, der den asiatischen Esel, zum Stammvater der Hauspferde erklärte, weil er der echten Wildpferde nicht ansichtig wurde. So wurde Nikolai Michailowitsch Przewalski (1839-1888) zu ihrem Entdecker. Der russische Militär und Naturforscher nahm die Berichte ernst, die ihm zugetragen wurden, und schickte 1878 Haut und der Schädel eines Wildpferdes, das von kirgisischen Jägern erlegt worden war, nach St. Peterburg. Bei späteren Reisen hat er dann ganze Herden mit eigenen Augen gesehen.

Normalerweise sind es Fluchttiere, aber bei der Buchpremiere im Berliner Tierpark kommen sie uns neugierig entgegen: Mit bernsteinfarbigem Fell und Irokesenmähne, dem charakteristischen Aalstrich auf dem Rücken, strecken sie uns ihre weißen Mäuler entgegen und blicken uns aus schräg stehenden Augen an. Fünf Stuten – sie wissen nicht, dass alle lebenden Tachi von 13 Eltern abstammen, dass es in der Mongolei 850 von ihnen gibt, in China 600, eine Herde auch in der Ukraine, sozusagen zum Ersatz für die ausgerotteten europäischen Wildpferde. Zoo-Besucher meinen ja mitunter, alles sei nur für sie selber da. Doch Hauptaufgabe von Tiergärten ist inzwischen die Zucht, um der Welt den Artenreichtum zu erhalten. Bisher sind 17 Berliner Przewalski-Pferde in ihre angestammte Heimat gereist. Wobei das Auswildern, wie wir erfahren, eine langwierige Prozedur ist. Erst müssen die Pferde Herden bilden, was gewöhnlich in Prag geschieht. Und am Bestimmungsort ist das Leben in Freiheit erst noch zu erlernen.

Wiedergutmachung an der vom Menschen geschundenen Natur: Während wir darüber nachdenken,  wie viele Arten dennoch ausgestorben sind, verlieren die Pferde das Interesse. Sie drehen sich von uns weg: Lasst uns in Frieden.

Stefan Schomann: Auf der Suche nach den wilden Pferden. Galiani Berlin. 459 S., geb., 25 €.

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