Reise ins Unbekannte
Von Irmtraud Gutschke
Bis zur mongolischen Unabhängigkeit 1911 war es die längste Kontinentalgrenze der Welt: 12 000 Kilometer: von Zentralasien bis ans Japanische Meer. Heute sind es „nur noch“ 3645 Kilometer, an denen Russland und China zusammenstoßen. Unsereins wir dort nie hinkommen und bewundert den Autor dieses Buches allein schon dafür, was er mit einer Reise in unbekannte Fernen auf sich genommen hat. „Immer wieder habe ich die Gründe und Abgründe zwischen den mongolischen Steppen, der sibirchen Taiga im Norden, dem Pazifik im Osten sowie dem chinesischen Kulturland südlich der Großen Maur durchstreift.“
1980 in Leipzig geboren – die ostdeutsche Herkunft wird vom Verlag nicht hervorgehoben, doch glaubte ich sie beim Lesen sofort zu erspüren – ist Sören Urbansky schon kurz nach dem Abitur zu seiner ersten Reise nach Peking aufgebrochen. nach einem Freiwilligendienst bei Memorial in Moskau hat er in Frankfurt (Oder), Harbin, Kasan, Berkley und in Peking Kulturwissenschaften und Geschichtswissenschaft sowie Russisch und Chinesisch studiert. 2014 promovierte er zur Geschichte der chinesisch-russischen Grenze. Ein immenses Wissen ist in dieses Buch eingeflossen und bildet den Hintergrund für die auf Reisen gesammelten ganz konkreten Erfahrungen, von denen Sören Urbansky so lebendig, so faszinierend packend erzählt, dass man dieses Buch fast als Abenteuerroman lesen möchte. Dabei ist es so viel mehr!
Ein Wissenschaftler – Sören Urbansky arbeitete in Freiburg, München, Cambridge und Washington – und zugleich ein begnadeter Reporter, der uns einbezieht in alles, was er erlebt, was ihm dabei durch den Kopf geht, welche fragen ihn bewegen. Wobei er seine Leser in keiner Weise mit seinen Meinungen „überfährt“. Vielmehr will er, dass sie sich selbst ein Bild machen können. Mit einer Vielzahl von Menschen ist er im Gespräch, stellt Fragen, nimmt ihre Erfahrungen in sich auf, ihre Hoffnungen und Ängste. Dabei erklärt er einem wie nebenbei eine Menge Zusammenhänge, von denen man womöglich noch nichts wusste. Wie die japanische Armee im Nordosten Chinas den Marionettenstaat Mandschukuo gründete, der von 1932 bis 1945 bestand, welche Gräueltaten in Pingfang verübt wurden, dass dort an Gefangenen mit biologischen Waffen experimentiert wurde, ich erfahre es erst jetzt.
Und wie ist nun das Verhältnis zwischen Russen und Chinesen? Das ist wohl nicht in einem Satz beantworten, zumal die russischen Grenzregionen kaum mehr mit dem aufstrebende China mithalten können. Beide Länder scheinen frühere Konflikte hinter sich gelassen zu haben, sind durch einen Freundschaftsvertrag verbunden. Eine neue geopolitische Realität ist im Entstehen. Sören Urbansky , der am Deutschen Historischen Institut in Washington die Geschichte von anti-chinesischen Diskursen erforscht, wüsste viel dazu zu sagen. Wie gern würde ich ihn einmal einladen zu einem nd-Literatursalon, aber er ist weit weg und viel beschäftigt. Ein „wissenschaftliches Buch über die Chinesen“ wird er sicher auch noch schreiben. Doch erst einmal, so bekennt er auf Seite 350, habe er sich „in einem anderen Genre“ versucht. „Frei schwebend, Schreiben ohne Geländer.“ Es ist ein wunderbares Buch geworden.
Sören Urbansky: An den Ufern des Amur. Die vergessene Welt zwischen China und Russland. C. H. Beck,
374 S., geb., 26 €.