Demokratie – nicht mehr als ein Markenname
Welchen Inszenierungen wir ausgesetzt sind und wie wir sie durchschauen können: Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Sheldon C. Wolin bietet in seinem Band „Umgekehrter Totalitarismus“ eine scharfsinnige Analyse neoliberaler Herrschaft.
Irmtraud Gutschke
Demokratische Länder versus totalitäre Regime – mit diesem Grundkanon westlicher Wertepolitik lässt sich alles begründen: von diplomatischer und ökonomischer Einflussnahme bis hin zu robusteren Formen politischer Eindämmung – Wirtschaftssanktionen, Waffenlieferungen, Regime-Changes, militärisches Eingreifen. Der alte West-Ost- und Nord-Süd-Gegensatz offenbart sich im neuen Kalten Krieg sogar in verschärfter Form. Die vom Abstieg bedrohte Hegemonialmacht USA, ringt um die Erhaltung und den Ausbau einer monopolaren Weltordnung. Die soll gerechtfertigt sein, indem sie sich mit einer Aura von Freiheit und Demokratie umgibt. Insofern steckt schon im Titel von Sheldon S. Wolins Buch eine Provokation: „Umgekehrter Totalitarismus“, als ob es da eine verborgene Ähnlichkeit gäbe zwischen Herrschaftsverhältnissen, die einander doch diametral entgegengesetzt sein sollten.
Der US-amerikanische Autor verstärkt seine Provokation sogar noch, indem er gleich zu Beginn zwischen „Triumph des Willens“, Leni Riefenstahls Propaganda Huldigung an Hitler 1934, und einem US-Propagandafilm von 2003 eine Verbindung herstellt. „War der Reichstagsbrand 1933 das symbolische Ereignis, das in Deutschland die Zerstörung der parlamentarischen Regierung durch die Diktatur ankündigt, so waren die Zerstörung des World Trade Center und der Angriff auf das Pentagon am 11. September 2001 ein Offenbarungserlebnis in der Geschichte des amerikanischen politischen Lebens.“ Was folgte, mochte „die größte Inszenierung in der Geschichte moderner Medien gewesen sein“, zu der sich das Fernsehen zur Verfügung stellte. Auch aus eigenem Antrieb, mutmaßt der Autor und stellt doch eine Frage, die ebenso heutige Zustände betrifft: „Wie kommt es, dass eine Gesellschaft, die das Prinzip der Wahlfreiheit vergöttert, ein Maß an Einigkeit hervorbringen konnte, das auf abgründige Weise an ein halboffenes Zwangssystem erinnert?“
Da hat ihn 2008 wohl ein warnender Blick aus seinem Verlag Princeton University Press“ getroffen, weshalb er im Vorwort eilig, „um Missverständnisse zu vermeiden“, der These widersprach, „dass das gegenwärtige politische System der USA von Nazideutschland inspiriert ist“. So kurzschlüssig hätten wir es ja auch nie verstanden. Doch zeigt uns die Beinahe-Entschuldigung, wie sich auch Sheldon A. Wolin der Existenz eines Meinungskorridors bewusst sein musste, in dem man jeder Zeit an eine Mauer stoßen oder in eines der vielen „Fettnäpfchen“ treten kann.
Heute muss ich auf makabre Weise geradezu dankbar dafür sein, dass es im DDR-Zentralkomitee eine Abteilung für Agitation und Propaganda gegeben hat, auch wenn ich deren in aller Offenheit ausgeübte Medienzensur direkt zu spüren bekam. Weil ich die ideologische Küche kenne, habe ich ihren Geruch in der Nase. Weil ich selbstverständlich davon ausgehe, dass der Staat das Machtinstrument der herrschenden Klasse ist, läuft der Autor des vorliegenden Buches bei mir sozusagen durch eine offene Tür, wenn er dies auch für die USA behauptet.
Aber er behauptet es nicht nur, sondern weist es im Detail nach, tiefgründig und sprachmächtig argumentierend. Anschaulich konkret, denn er nimmt uns mit in die Vergangenheit seines Landes ebenso wie in die Ideengeschichte von Macht und Demokratie. Mitreißend zu lesen, steckt das Buch voller interessanter Einzelheiten und zielt dabei auf größere Zusammenhänge. Auf entlarvende Weise analysiert der Autor ein Herrschaftssystem, das anders ist, als es vorgibt zu sein. Zugleich bestätigt der Band allein schon durch seine Existenz, dass neoliberale Herrschaft, solange sie nicht gefährdet ist auch eine gewisse Toleranz zeigen kann. Immerhin konnte das voluminöse Werk in den USA veröffentlicht werden. Und die deutsche Übersetzung befindet sich im Westend Verlag in guter Gesellschaft mit anderen ideologiekritischen Publikationen. Um nur einige zu nennen: „Warum schweigen die Lämmer“ und „Angst und Macht“ von Rainer Mausfeld, „Macht. Wie die Meinung der Herrschenden zu herrschenden Meinung wird“ von Almut Bruder-Bezzel und Klaus-Jürgen Bruder, „Propaganda. Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird“ von Jacques Ellul und nicht zuletzt „Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst“ von Albrecht Müller, der Lesern eine praktikable Handreichung gibt, „wie man Manipulationen durchschaut“.
Dialektik des Machterhalts
Die Verfügbarkeit solcher Bücher kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, wie schwer sie es im öffentlichen Diskurs haben. Journalisten reagieren nicht selten nach dem Motto „getroffene Hunde bellen“ bzw. finden das alles erstunken und erlogen, eine Beleidigung geradezu, als wären sie nur Abhängige, die nicht offen ihre Meinung sagen. Was da als persönlicher Verdrängungsmechanismus erscheint, um systemkritische Bücher abzulehnen, die einen selbst in Zwiespalt stürzen würden, ist zugleich ein ideologisches Bollwerk gegen jeglichen Verdacht von Manipulation und Gleichschaltung in der Bevölkerung, der dann schnell als Verschwörungstheorie gebrandmarkt wird. Denn für das ohnehin wachsende Ressentiment angesichts politischer Ohnmacht und nicht eingelöster Wohlstandsversprechen ist der Vorwurf Medienmanipulation gleichsam ein Brandbeschleuniger. Wenn das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen massenhaft schwindet, wird dieser zu anderen Machtmethoden Zuflucht nehmen.
In diesem Zusammenhang charakterisiert Wolin die Auswirkungen der Anschläge vom 11. September 2001 auch dahingehend, dass die Medien damals nicht nur eine „Ikonographie des Terrors“ produzierten, „sondern auch eine verängstigte Öffentlichkeit, die dafür empfänglich war, sich führen zu lassen“. Da wurden amerikanische Bürger „in das Reich der Mythologie hineingeschleudert, in eine neue und andersartige, außerweltliche Dimension des Daseins, in der okkulte Kräfte darauf aus sind, jene Welt zu zerstören, die für die Kinder des Lichts geschaffen worden war … Der Mythos erzählt eine Geschichte, … wie sich die Armeen des Lichts aus den Ruinen erheben werden, um die Mächte der Finsternis zu bekämpfen … Er macht die Welt nicht verständlich, sondern dramatisiert sie.“
Unwillkürlich stellt sich beim Lesen ein Bezug zur Gegenwart her. Die Realität des Ukraine-Krieges wird ja auch umhüllt von einer manipulierenden Vorstellung: David kämpft gleichsam gegen Goliath und benötigt dafür die Hilfe aller guten Menschen. Hingerissen von eigenen Emotionen und dem öffentlichen Zwang zur Parteinahme, erscheint vielen allein schon die Frage nach den Hintergründen dieses Großmachtkonflikts unpassend, als „Whataboutism“, ein Zurückweichen vor dem Feind.
Bedrohung von außen, Druck nach innen
Die Gefahr autoritärer Veränderungen droht immer. Sheldon S. Wolin zitiert den Verfassungsrechtler Edward Corwin, der 1947 darüber spekulierte, wie das System der Rechtsstaatlichkeit angesichts der Möglichkeiten eines Atomkriegs zu einer „funktionalen Totalität“ gestrafft werden könnte: „Zu einer politisch verordneten Beteiligung aller Kräfte an den Kriegsanstrengungen: der individuellen und gesellschaftlichen Kräfte, der wissenschaftlichen, maschinellen, kommerziellen, wirtschaftlichen moralischen, literarischen und künstlerischen sowie der psychologischen Kräfte.“
Totalitäre Konzentration von Macht, begründet durch reale oder scheinbare Bedrohung von außen, macht in der Tat vieles möglich, was im demokratischen Konsens nicht durchsetzbar wäre – die drastische Erhöhung von Preisen und von Militärausgaben beispielsweise – und stellt, worüber man sich keine Illusionen machen sollte, im Bedarfsfall auch einen Unterdrückungsapparat zur Verfügung. Da weist Sheldon S. Wolin detailliert nach, welche Auswirkungen der Kalte Krieg (1947-1991) auf die innere Verfasstheit der USA hatte. Ausführlich geht er auf den offiziellen Bericht des Nationalen Sicherheitsrats an Präsident Truman von 1950 ein. Das darin proklamierte konfrontative Weltbild in der Auseinandersetzung mit der Sowjetunion gilt heute ebenso gegen Russland. Tugend im Kampf gegen ein grenzenloses Böses – so politisch naiv dieser Dualismus scheinen mag, ist er doch ein „Lieblingskind vieler Mythen“. Sheldon S. Wolin ist 2015 gestorben, doch hat er die Anfänge „eines permanenten globalen Krieges“ auf scharfsinnige Weise vorausgesehen.
„Dem amerikanischen Volk wird ein großes Maß an Opfern und Disziplin abverlangt werden“, hieß es schon 1950. „Die Amerikaner werden sich aufgefordert sehen, einige der Annehmlichkeiten aufzugeben, die sie mit ihren Freiheiten verbinden.“ Da rückt einem der Gedanke nahe, wie Corona- und Ukraine-Krise aus verschiedenen Richtungen auf uns eingewirkt haben. „Wir können auch mal frieren für die Freiheit“, sagte Joachim Gauck, der bestimmt nicht frieren wird, doch von „Freiheit“ bekanntlich eine verhimmelte Meinung hat.
Demokratie und Kapitalismus widersprechen sich
Es ist die Normalität, in der wir leben, dass politische Entscheidungsstrukturen „weitgehend von der gesellschaftlichen Basis abgekoppelt“, sind „und sich gegen demokratische Kontrolle und Rechenschaftspflicht abgeschottet“ haben, wie Rainer Mausfeld in seiner Einleitung feststellt. „Exekutivapparate, Parteien, Parlamentsfraktionen, Medien und ökonomische Interessengruppen haben sich zu einer Organisationsform von Macht verschmolzen“, mit der wir uns schon abgefunden haben. Den Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit nehmen viele schon nicht mehr wahr.
Sheldon S. Wolin aber trägt ihn schmerzhaft im Herzen. Er klammert sich an das Ideal und polemisiert, weil er die partikuläre, „flüchtige Demokratie“ in eng begrenzten Räumen für unzureichend hält. Er will viel mehr Teilhabe, als sie die repräsentative Demokratie zulässt, die er eine „Zuschauer-Demokratie“ nennt. Eine „Wahl-Oligarchie“. Wobei es doch eigentlich in der Natur der Sache liegt, dass wirkliche Demokratie, die auf dem Gleichheitsprinzip beruht, nicht zum Kapitalismus passt.
Entlarvend in diesem Zusammenhang die Worte des CDU-Politikers Norbert Blüm 2006, die Rainer Mausfeld zitiert: „Wir haben es mit einer Wirtschaft zu tun, die sich anschickt, totalitär zu werden, weil sie alles unter den Befehl einer ökonomischen Ratio zu zwingen sucht. Aus Marktwirtschaft, das ist ein Segment, soll Marktgesellschaft werden. Das ist der neue Imperialismus. Er erobert nicht mehr neue Gebiete, sondern macht sich auf, Hirn und Herz der Menschen einzunehmen. Sein Besatzungsregime verzichtet auf körperliche Gewalt und besetzt Zentralen der inneren Steuerung des Menschen.“
Ein schöner Schein wird entlarvt
Wolins Analyse gilt einem System, „das vorgibt, das Gegenteil von dem zu sein, was es in Wirklichkeit ist“. Ein schöner Schein wird entlarvt, der freilich ein einigermaßen bequemes Leben ermöglich, so lange er aufrecht erhalten wird. „Totale Macht auszuüben – ohne dabei den Anschein zu erwecken, dies zu tun – ohne Konzentrationslager einzurichten, ohne ideologische Einheitlichkeit zu erzwingen oder Andersdenkende gewaltsam zu unterdrücken, solange sie wirkungslos bleiben“, darin sieht Wolin gar eine „Genialität“ des Systems.
Da prägt sich einem auch Noam Chomskys Diagnose ein, die ebenfalls in der Einleitung zitiert wird: „Der intelligente Weg, Menschen passiv und fügsam zu halten, besteht darin, das Spektrum akzeptabler Meinungen strikt zu begrenzen, aber eine sehr lebhafte Debatte innerhalb dieses Spektrums zu ermöglichen – und sogar kritischere und sogar abweichende Ansichten zu fördern. Das gibt den Menschen das Gefühl, dass freies Denken stattfindet, während die Voraussetzungen des Systems immer wieder durch die Grenzen des zulässigen Bereichs der Debatte verfestigt werden.“
Systemstabilisierend nach innen und kämpferisch nach außen, ist der der Begriff „Demokratie“ ein „Markenname für ein Produkt, das zu Hause kontrollierbar und im Ausland vermarktbar ist“, wie Wolin feststellt. Dabei kann es sogar sein, dass Joe Biden aus tiefstem Herzen selber glaubt, was er in seiner Politik zum Ausdruck bringt: dass die USA der Nabel der Welt sind, sozusagen eine göttlich gesandte Macht, legitimiert, überall, wo auch immer, einzugreifen, wenn die eigenen Interessen zur Disposition stehen. Wobei anderen Völkern und Staaten solche Interessen abgesprochen werden.
US-Hegemonie als Priorität
Auf eine seltsam selbstverständliche Weise, sozusagen in Abwandlung des berühmt-berüchtigten Zitats von Emanuel Geibel (1815-1884): „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ wird hier ein Nationalismus zelebriert, der gerade vor dem Hintergrund deutscher Vergangenheit alarmieren muss. Wie sich missionarischer Anspruch mit militärischen Ambitionen verband, müsste uns eigentlich bekannt sein.
Mit der sogenannten Bush-Doktrin von 2002, die im Buch ausführlich behandelt wird, war die Ausweitung der US-Hegemonie als oberste Priorität festgeschrieben, eingeschlossen das Recht, Präventivkriege zu führen und Gewalt gegen Staaten anzuwenden, die sich der Vorherrschaft zu widersetzen suchen. Vor allem Russland und China sollten „eingedämmt“ werden. Dass aufstrebende, ehrgeizige Mächte nun ebenso auf ihren Interessen bestehen und sich dem Hegemon nicht unterzuordnen gedenken, dieses Entstehen einer multipolaren Weltordnung, wird über den Ukraine-Konflikt hinaus für Turbulenzen sorgen, in denen Europa an einen gefährlichen Scheideweg kommt.
Das dicke Buch von Sheldon A. Wolin ist so inhaltsschwer, dass hier nicht alles im Einzelnen referiert werden kann. Wichtigster Gewinn der Lektüre: Aus dem Gewölbe ideologisch geprägter Vorstellungen herauszutreten und einen Außenstandpunkt einzunehmen, sich also angesichts verbreiteter Affektkommunikation in rationaler Distanz zu üben. Analytisches Herangehen im aufklärerischen Sinne als Mittel gegen die Ohnmacht, vor einer verwirrenden Realität wie blöd dazustehen.
Sheldon A. Wolin: Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie. Mit einer Winführung von Rainer Mausfeld. Westend Verlag, 462 S., geb., 36 €.