Wertkonservativ und zugleich links?
Sahra Wagenknecht musste für ihr „Gegenprogramm“ mit Gegenwind rechnen
Von Irmtraud Gutschke
Die „Linke“ wollte keine „Partei neuen Typus“ sein mit entsprechender Disziplin, sondern eine „bunte Truppe“. Das klang erst einmal lustig, doch spätestens dann hört der Spaß auf, wenn es um Listenplätze für die Bundestagswahl geht. Wenn Abgeordnete wie Pflegekräfte bezahlt würden, wäre das natürlich anders. Aber dies nur nebenbei gesagt. Passgenau zum Wahlkampf hat Sahra Wagenknecht ihr neues Buch veröffentlicht. Selbstgewiss und lächelnd schön blickt sie uns vom Cover entgegen. Doch im Titel steckt Groll. „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“. „Mein“? Das „M“ störte mich.
Allerdings kann „mein“ auch eine Einschränkung meinen: das Wissen, dass die eigene Ansicht eine unter mehreren ist, die alle ihre Wurzeln haben. Eine Partei ist indes keine Selbsterfahrungsgruppe, wo einem freundlich zugehört wird, welche Gefühle auch immer man ausbreiten möchte. Vielleicht bin ich in diesem Sinne ungerecht, wenn mir von Sahra Wagenknechts weniger Polemik und mehr Verständigungswillen gewünscht hätte. Mit Blick auf die Öffentlichkeit kanzelt sie Teile einer Partei ab, deren Repräsentantin sie doch immer noch ist. Ist es denn klug, gerade im Wahljahr das Bild einer gespaltenen Partei zu vermitteln?
Andererseits: Gerade im Wahljahr muss darüber nachgedacht werden, wer denn das Klientel der Linken sein müsste und warum Arbeiterinnen und Arbeiter, ob in Industrie und Dienstleistungsbereich oder gar in völlig prekäre Verhältnisse abgedrängt, oft schon nicht mehr zur Wahl gehen oder gar die Rechten wählen. Warum sehen viele von ihnen in der Linken nicht mehr ihre Interessenvertretung? Mit „Die Selbstgerechten“ weist Sahra Wagenknecht jenen die Schuld zu, die sie als „Lifestyle-Linke“ bezeichnet und denen sie große Teile ihres Buches widmet. Sie meint damit Angehörige der neuen urbanen akademischen Mittelschicht, die zum großen Teil zu den Grünen tendieren, aber auch bei den Linken Einfluss haben und als Wähler gewonnen werden sollen. Mit ihren Werten – Weltoffenheit, Liberalität, Autonomie und Selbstverwirklichung – dürfen sie sich unwiderlegbar auf der Seite des Fortschritts fühlen. Aber, da hat Sahra Wagenknecht recht, oft betrachten sie als Tugenden, was aus ihren Privilegien kommt, ihrem kulturellen Kapital, das eine Mehrheit der Bevölkerung in diesem Maße eben nicht besitzt. Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass viele von ihnen nur dieses kulturelle Kapital haben, materiell aber der Service Class gleichgestellt sind oder als Freiberufler noch nicht mal das. Da ist emanzipatorischer Hochmut auch eine Kompensation in ansonsten demütigender Lage.
Diese Gesellschaft ist gespalten in Arm und Reich und daneben in Sprachmächtige und Sprachlose. Um beides zusammenzudenken: Das neoliberale System hat die neue akademische Mittelschicht hervorgebracht und macht sich deren linken Impetus zunutze, weil hinter einer Masse von zum Teil nur symbolisch geführten Gefechten der Klassenwiderspruch unsichtbar wird. Dabei sind es im Grunde fortschrittliche Werte, um die gestritten wird: Frauen- und Minderheitenrechte, Offenheit, Antirassismus usw, nicht zu trennen eigentlich von linker Klassenpolitik. Aber wie uns das täglich aus den Medien um die Ohren fliegt, so aufgeregt, wirkt es oft wie eine pädagogische Übung, so, als ob Leser, Zuschauer, Hörer zu belehren wären. Und fatalerweise richten jene, die so für allgemeine Offenheit sind, Trennwände auf gegen jene, die aus anderen Erfahrungen andere Prioritäten setzen. Große Teile der Bevölkerung – Arbeiterklasse ebenso wie alte Mittelklasse – fühlen sich in der Öffentlichkeit nicht mehr repräsentiert. Sahra Wagenknecht: „Der linksliberale Kulturkampf gegen rechts spielt den Rechten die Bälle zu.“
Dabei kommt der Anspruch moralischer Überlegenheit eben nicht aus der weitgehend den Blicken verborgenen Oberschicht, sondern von Menschen, die Zukunftsideale in sich tragen, zu denen sie andere bekehren möchten. Die Werte der alten Mittelklasse haben sie als „spießig“ hinter sich gelassen, auch wenn die Eltern ihnen den Aufstieg ermöglichten. Und mit jenen, die ohne größere kulturelle Ansprüche vor allem damit befasst sind, nur irgendwie durchzukommen, wollen sie sich nicht gemein machen. Sahra Wagenknecht hat schon recht: Wer sich selber gern an der Seite der Eliten sehen will, hat keine Lust, sich zu den Unterprivilegierten zu stellen, die einen, das sei hinzugefügt, womöglich als fremd empfinden und gar nicht haben wollen.
Hinzugefügt sei: Die notwendigen sozialen Verteilungskämpfe waren und sind unter den Bedingungen des Neoliberalismus dermaßen schwer zu führen, dass Felder gesucht werden, auf denen noch ein gewisser emanzipatorischer Fortschritt sichtbar werden konnte. „Den Mindestlohn zu erhöhen oder eine Vermögenssteuer für die oberen Zehntausend einzuführen ruft natürlich ungleich mehr Widerstand hervor als die Behördensprache zu verändern, über Migration als Bereicherung zu reden oder einen weiteren Lehrstuhl für Gendertheorie einzurichten“, meint Wagenknecht. Hat sie recht damit?
Ich habe diese Rezension eigentlich schon vor Monaten geschrieben und immer wieder darüber nachgedacht. Betrachtet man die Wahlplakate der „Linken“ und die Aussagen ihrer Spitzenpolitiker scheint Wagenknecht offene Türen einzulaufen. Aber höherer Mindestlohn und Vermögenssteuer sind auch erstmal nur Forderungen, deren Verwirklichung der Linken nicht allein gelingt. Da streckt man die Arme nach möglichen Bündnispartnern aus und sucht Berührungspunkte, die in Umwelt- und identitären Themen bei den Grünen wohl zu finden sind. In der Außenpolitik nicht, und das wiegt schwer.
Inzwischen hörte ich vielfach das Argument, dass Identitätspolitik und soziales Engagement zusammengehören. Mit der Betonung von Minderheitenrechten kann man eine Mehrheit verlieren, die sich in diesen Debatten zurückgesetzt fühlt, wenn alte weiße Männer plötzlich ebenso zum Feindbild werden wie „Cis“-Frauen und Menschen, die gegen offene Grenzen Einwände haben. „Deutschland normal“ heißt es auf einem Wahlplakat der AfD, was eine ziemlich blöde Formulierung ist, aber durchaus verstanden wird. So bissig, wie sich Sahra Wagenknecht äußert, will sie jene auf ihre Seite ziehen, denen so manches öffentliche Scheingefecht auf die Nerven geht, und die hinter mancher Anerkennungsdebatte die Suche nach Konkurrenzvorteilen erkennen. Da ist Uwe Kalbes Aussage im nd vom 20. August 2021 zuzustimmen: „Politische Akteure, Minderheitenrechte – so sehr diese auch unterstützt gehören – in den Vordergrund stellen, fordern damit letztlich eine Privilegierung dieser Minderheiten, die am Ende nur auf Kosten der Mehrheit durchsetzbar ist.“ Noch deutlicher gesagt: Konkurrenzverhältnisse, von denen diese Gesellschaft lebt, tragen Diskriminierung in sich. Wenn die Ausgebeuteten untereinander streiten, wem ein Vorzug gebührt, ist das den Ausbeutern gerade recht. In identitärer Symbolpolitik sehe ich ein neoliberales Ablenkungsmanöver, das viele Menschen erst aufregt, dann resignieren lässt und sie als Protestwähler in die rechte Richtung treibt.
Wagenknecht polarisiert in einem Maße, dass sich ihre Kritikerinnen und Kritiker an einzelnen Sätzen festbeißen, sie missverstehen und das Programm, das sie insgesamt entwirft, überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen. So vieles ließe sich diskutieren, nicht bloß verneinen oder abnicken. Welche Perspektiven gibt es für die EU? Welche Rolle gebührt dem Nationalstaat, überhaupt der staatlichen Macht? Wären Formen direkter Demokratie sinnvoll? Da gibt es mehrere Vorschläge. Warum ist der Kapitalismus innovationsfaul geworden? Was wäre unter ehrlicher Umweltpolitik zu verstehen? Was wäre in einer echten Leistungsgesellschaft gerecht? Welche Wege führen zu einem stabilen Finanzsystem? Welche Chancen und welche Risiken sind mit der Digitalisierung verbunden?
Wirklich, ein ganzen Programm „für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ hat die Autorin entworfen, und Oskar Lafontaine, mit dem sie bekanntlich verheiratet ist, mag ihr dabei über die Schulter geschaut haben. Es ist ein sozialdemokratisches Programm, das traditionelle Lebensvorstellungen bekräftigt, die in der Bevölkerung eine breite Basis haben. Gegen die Überflieger stellt sich Sahra Wagenknecht an die Seite der Beharrenden, spricht von „Anstand, Maßhalten, Zurückhaltung, Zuverlässigkeit, Treue“. In der FAZ registrierte Peter Gauweiler erstaunt ehemals rechte Positionen. In der „Zeit“ empfahl Adam Soboczynski der CDU Sahra Wagenknecht als Sozialministerin. Solches Echo dürfte sie getroffen, aber möglicherweise auch ich nicht überrascht haben. Wie auch immer, es ist kontraproduktiv im Verhältnis zu ihrer Partei.
Wertkonservativ und zugleich links zu sein, sei kein Widerspruch, sagt sie. „Zugespitzt könnte man ein solches Programm als linkskonservativ bezeichnen, auch wenn dieser Begriff mit dem Risiko lebt, von beiden Seiten abgelehnt zu werden … Die konservative und die linke Erzählung haben sich immer aus ihrem Gegensatz heraus definiert. Dessen ungeachtet haben erfolgreiche Parteien, nicht zuletzt erfolgreiche sozialdemokratische Parteien, historisch oft genau das gemacht: linkskonservative Politik.“
Wir leben in Zeiten, in denen sich vieles ändert: Kräfteverhältnisse und Wertsysteme. Ein Paradigmenwechsel des Neoliberalismus aus einer Profitabilitätskrise heraus würde möglicherweise auch dessen Kehrseite, den Kulturliberalismus, betreffen, der dann sogar vielleicht wieder einer Verteidigung bedarf. Was auch immer geschieht, nach der nächsten Bundestagswahl sehen wir klarer oder auch nicht. Auf jeden Fall hat Sahra Wagenknecht Diskussionen anstoßen wollen. Aber eigentlich wird darum ja gar nicht diskutiert. Es werden klare Urteile gefällt. Für oder Wider – beides schadet ihr letztendlich. Es muss ihr klar gewesen sein, dass sie mit „mein“ nicht weit kommt, dass sie für ihr Programm Verbündete braucht. Innerhalb der Wählerschaft der Linken wird sie sie finden, in den Parteistrukturen wird es schwer, nicht zuletzt wegen der allgegenwärtigen Konkurrenz.
An Klugheit und Kampfesgeist fehlt es ihr nicht. Es ist geradezu schicksalhaft, da von anderen für arrogant gehalten zu werden. Man wird verletzt und wehrt sich dagegen. Und würde sich ein verständnisvolles Miteinander sogar selber wünschen – bis zum ersten Pfeil, der einen trifft. Schon bevor ihr Buch auf dem Markt war, wurden Zitate aus dem Zusammenhang gerissen, um die Wahl der Autorin als NRW-Spitzenkandidatin zu verhindern. Es gelang nicht, aber Schmerz bleibt zurück.
Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt. Campus Verlag, 344 S., geb., 24,95 €.