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Nahrung für das Immunsystem
„Warum schweigen die Lämmer“ von Rainer Mausfeld
Irmtraud Gutschke
Die Lektüre dieses Buches würde „Leserinnen und Leser vermutlich nicht mit angenehmen Gefühlen zurücklassen“, meint Rainer Mausfeld. Denn er schreibt gegen Illusionen an. Gegen die Illusion zuvörderst, dass wir in einer Demokratie leben, in der alle Macht vom Volke ausgeht, wobei die Differenz zwischen Ideal und Wirklichkeit doch im Alltäglichen erlebt wird und immer wieder zu Irritationen führt. Geht man indes, wie der Autor, von einer Analyse des kapitalistischen Systems aus, in dem Profitinteressen einer Minderheit geschützt werden sollen vor den Ansprüchen der Mehrheit, stellen sich viele Probleme vom Kopf auf die Füße. Wobei gerade Rainer Mausfeld als Psychologieprofessor in seine Analysen immer mit einbezieht, wie diese Tatsache von uns im „Kopf“ verarbeitet wird, in welchem Dilemma wir uns dabei befinden.
Ob es uns gefällt oder nicht: „Demokratie ist auf ein inszeniertes Spektakel periodischer Wahlen reduziert worden, bei denen die Bevölkerung aus einem ihr vorgegebenen ‚Elitenspektrum‘ wählen kann.“ Lebte der Feudalismus von der prunkvollen Sichtbarmachung von Herrschaft und der gewaltsamen Unterdrückung von Gegnern, so sind die Zentren der Macht im Kapitalismus weitgehend verborgen, so dass politische Veränderungsbedürfnisse sich in der Wahl anderer Repräsentanten aus einem vorgegebenen Spektrum erschöpfen müssen. Rainer Mausfeld spricht von einer „Form der Oligarchie, die jedoch dem Volk als Demokratie erscheint.“ Was immer noch bequemer ist, so sei hinzugefügt, als die offene, gewaltsame Machtausübung.
Wie solche Techniken schon seit mehr als einem Jahrhundert „unter wesentlicher Beteiligung der Sozialwissenschaften entwickelt worden sind“, dürften vielen nicht bekannt sein. Interessanterweise kommen besonders bemerkenswerte Untersuchungen aus den USA. Indem sie einerseits der Macht dienten, entlarvten sie diese andererseits auch. Rainer Mausfeld zitiert Harold Lasswell (1902-1978), dass Propaganda „wesenhaft und zwangsläufig zu einer funktionsfähigen Demokratie“ gehöre und zudem „kostengünstiger“ sei „als Gewalt, Bestechung oder irgendwelche anderen Kontrolltechniken“. Edward Barnays (1891-1995), der die amerikanische Regierung unter Wilson im Ersten Weltkrieg im Committee on Public Information (CPI) bei ihrem Bemühen unterstützte, die Zustimmung der Öffentlichkeit für einen Kriegseintritt der USA zu erzielen, hat sein berühmtestes Buch 1928 sogar „Propaganda“ genannt. „Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie bilden eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist.“
Überaus aufschlussreich auch das im Buch zitierte Statement von Paul Lazarsfeld, geboren 1901 in Wien und von 1933 bis zu seinem Tode 1976 in den USA lebend. „Man muss die Bürger mit einer Flut von Informationen überziehen, so dass sie die Illusion der Informiertheit haben.“ Dadurch habe der Bürger „ein politisch reines Gewissen; er fühlt sich über alles Wesentliche unterrichtet und kann abends beruhigt zu Bett gehen“.
Besonders anfällig für diese „Illusion der Informiertheit“, schreibt Rainer Mausfeld, seien „die sogenannten gebildeten Schichten“, die „durch ihre schweigende Duldung ein wichtiges Stabilisierungselement der jeweils herrschenden Ideologien“ sind. „In der Legitimationsrhetorik für militärische Operationen“ werden sie unter dem Banner von „humanitären Aktionen“ zur Zustimmung gebracht, während die übrigen Teile der Bevölkerung „am leichtesten durch Angsterzeugung vor bösartigen und gewalttätigen Kräften“ zu gewinnen sind.
Wie findet die Meinungssteuerung nun konkret statt? Indem zum Beispiel Fakten als Meinungen deklariert werden und umgekehrt. Dabei wird die Darstellung möglichst so fragmentiert, dass Sinnzusammenhänge verloren gehen. Fakten werden aus dem Zusammenhang gerissen, sodass sie als isolierte Einzelfälle erscheinen, oder, wenn es passt in einen anderen Kontext gestellt. „Je häufiger man eine Meinung hört, umso stärker steigt der gefühlte Wahrheitsgehalt.“ Außerdem: „Je weniger wir uns in einem Bereich auskennen, umso stärker neigen wir dazu, alle Meinungen als gleichberechtigt anzusehen, und meiden die als extrem angesehenen Ränder des beobachteten Meinungsspektrums, selbst dann, wenn die richtige Auffassung tatsächlich dort verortet ist.“ Vergleicht man diese Aussage mit eigenen Reaktionen, kann das geradezu beklommen machen.
Denn tatsächlich sind wir, wie der Psychologe Mausfeld weiß, nicht ganz gegen solche Manipulationstechniken gefeit, auch wenn wir wissen, wie sie funktionieren und welche Eigenschaften unseres Geistes sie sich zunutze machen. „Die dabei aktivierten internen Prozesse laufen unbewusst ab und unterliegen nicht unserer willentlichen Kontrolle.“ Soft-Power-Techniken machen es sich zunutze, „dass wir stets eine Art Rahmenerzählung benötigen, durch die wir erst der Fülle unserer gesellschaftlichen und politischen Erfahrungen einen Sinnzusammenhang geben können“. Dafür diente zum Beispiel schon lange die Vorstellung von einer berufenen Elite, die das Volk zu seinem Wohle zu führen habe. Im Neoliberalismus kommt das Narrativ hinzu, dass es eigentlich kein Oben und Unten gibt, weil jeder durch seine eigene Leistung alle Möglichkeiten hat.
Das führt zu einer Atomisierung der Gesellschaft, die dadurch entpolitisiert wird, dass jeder mit seinem eigenen wirtschaftlichen Überleben total ausgelastet ist und seine „soziale Situation einzig seiner Anpassungskompetenz an die ‚Erfordernisse des Marktes‘ zuschreibt. „Auch die strukturelle Erzeugung von Ängsten auf sozioökonomischem Wege – beispielsweise ein hohes Maß von beruflichem Stress, gesellschaftliche Versagensängste und Ängste vor sozialem Abstieg – lässt sich für dieses Ziel nutzen. Weitere Methoden, die Aufmerksamkeit von den Zentren der Macht abzulenken, sind Zerstreuung durch eine mediale Überflutung mit Nichtigkeiten, Konsumismus, Ausbildung von Falsch-Identitäten oder Infantilisierung. Dabei werden natürliche Bedürfnisse des Menschen nach Passivität und Abgabe von Verantwortung missbraucht.“
Interessant die Einschätzung des Schriftstellers und Philosophen Aldous Huxley (1894-1963), berühmt durch seinen Roman „Schöne neue Welt“ (1932): In der modernen Medienindustrie, schrieb er 1958, würde es nicht mehr vorrangig um „richtig oder falsch“ gehen, vielmehr würden die Konsumenten „mit mehr oder weniger völlig irrelevanten Dingen beschäftigt“. Demgegenüber hätten frühere Formen der Propaganda „versäumt, den fast unersättlichen Drang des Menschen nach Ablenkung durch Nichtigkeiten zu berücksichtigen“.
Somit hat der heute übliche Sensationsjournalismus seinen Grund nicht nur in der angestrebten Verkäuflichkeit des jeweiligen Mediums, sondern gehört auch zum politischen Empörungsmanagement. Selbst wenn sich die Bevölkerung über die „Gier von Bankern, die Verlogenheit von Politikern, die intellektuelle Korruptheit von Journalisten … oder den Sadismus von Folterexperten ereifert“, wird dadurch von tieferliegenden strukturellen Bedingungen abgelenkt.
Das gesamte Mediensystem ist so aufgebaut, so Mausfeld, „dass es gar keiner gezielten personellen Steuerung bedarf. Seine Konformität zur herrschenden Ideologie ergibt sich bereits aus Filtermechanismen, die eine direkte Folge der strukturellen ökonomischen Machtbeziehungen sind.“ Diese Filtermechanismen beziehen sich zum einen auf die Auswahl von Nachrichten: Nur wenige große kommerzielle Agenturen dominieren die Bereitstellung des Nachrichtenmaterials. Ebenso vielfältig wie komplex sind die „Filtermechanismen für eine journalistische Karriere“. Als bezeichnend kann es gelten, dass die Figur des politisch kritischen Intellektuellen weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden ist. In ihrer Mehrzahl, so der Autor, sind Intellektuelle und Journalisten heute Bannwarte der Macht.
Seit Mausfelds Buch 2018 erstmals erschien, hat sich die Krise des Systems ökonomisch und politisch zugespitzt. Unter den Bedingungen einer schon lange grassierenden Profitabilitätskrise des Kapitals suchte und fand die Umverteilung von unten nach oben neue Wege, und viel mehr Menschen als je zuvor sind in Deutschland von Verarmung bedroht. Corona, der Krieg in der Ukraine, Energieknappheit – Ängste grassieren zusammen mit der Ahnung, doch irgendwie manipuliert zu werden. Dazu passt ein Zitat von Noam Chomsky im Buch: „Der intelligente Weg, Menschen passiv und fügsam zu halten, besteht darin, das Spektrum akzeptabler Meinungen strikt zu begrenzen, aber eine sehr lebhafte Debatte innerhalb dieses Spektrums zu ermöglichen – und sogar kritischere und abweichende Ansichten zu fördern. Das gibt den Menschen das Gefühl, dass freies Denken stattfindet, während die Voraussetzungen des Systems immer wieder durch die Grenzen des zulässigen Bereichs der Debatte verfestigt werden.“ Aber der Staat kann immer auch anders.“ Angesichts der brutalen gesellschaftlichen Folgen des Umverteilungsprozesses muss der Neoliberalismus Reaktionen der Bevölkerung erwarten, die zur Sicherung seiner Stabilität offen autoritäre Maßnahmen erforderlich machen könnten … Dazu bedient er sich gerne jeder Art von Bedrohungsszenarien, um in der Bevölkerung die Bereitschaft zu erhöhen, demokratische Substanz abzuschaffen.““
Der Buchumschlag zeigt ein Opferlamm mit zusammengebundenen Beinen. So möchten wir nicht sein. „Je nach Persönlichkeit und eigenen Lebenserfahrungen, schreibt der Autor, kann die Lektüre Gefühle der Deprimiertheit, Überwältigung, Ohnmacht oder Hoffnungslosigkeit hinterlassen oder Gefühle der Empörung, des Zorns oder des Aufbegehrens, vielleicht aber auch das Gefühl intellektueller Befriedigung, dass sich zuvor Fragmentiertes zu einem Sinnganzen zusammenfügt.“ Denn bei all dem, was über Techniken der Beeinflussung enthüllt ist, verfügen wir durch unseren Verstand „über ein natürliches Immunsystem gegen Manipulation. Wir müssen uns nur entschließen, es zu nutzen.“
Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer? Wie Elitendemokratie und Neoliberalismus unsere Gesellschaft und unsere Lebensgrundlagen zerstören. Westend Verlag, 319 S., br., 15 €.