„Ständig greift irgendetwas an“
Philipp Kohlhöfer erklärt, „wie Viren die Welt verändern“ – und das liest sich wie ein Roman
Von Irmtraud Gutschke
Christian Drosten „hat gerade Silvester hinter sich gebracht. Er hat schlecht geschlafen und nur kurz. Es ist der erste Januar, er steht auf seinem Balkon und freut sich über die frische Luft. Berlin liegt zu seinen Füßen und sieht erschöpft aus. Er hat das Handy in der Hand“ und erfährt nun von einem Kollegen von der Häufung schwerer Lungenentzündungen in Wuhan. Ist es wirklich so gewesen? Egal, es könnte so gewesen sein. Der dicke Band von Philipp Kohlhöfer ist komponiert wie ein Roman mit wechselnden Handlungsorten und Gestalten, in die man sich beobachtend hineinversetzen soll. Der Titel „Pandemien. Wie Viren die Welt verändern“ verweist indes auf ein Sachbuch. Zwei Genres vermischen sich auf ungewöhnliche Weise.
Der Autor ist Wissenschaftsjournalist. Er versteht zu recherchieren – das Quellenverzeichnis umfasst über 50 eng bedruckte Seiten –, vor allem aber ist er ein Erzähltalent. Man spürt, wie das Schreiben ihm Spaß macht, wie er sich davon selber mitreißen lässt. Dabei scheint er sich wie vor einem großen Publikum zu fühlen, dem er etwas mitteilen, dass er auch überzeugen will. Dazu holt er sich mehrere Wissenschaftler an seine Seite, die er interviewt hat, die er aber hier gleichsam zu Romangestalten formt. Gleich zu Beginn begegnen wir dem Arzt Thushira Weerawarna, der in Siebenbürgen, Rumänien miterleben muss, wie ihm ein Patient erstickt. Und Mirijam Knörnschild, die in einer Kalkberghöhle in Bad Segeberg Fledermäusen sehr nahe kommt. Steckt sie sich dabei an? „Coronaviren gibt es viele, in Hunden, Katzen und in Meerschweinchen und in Fledermäusen aus dem Landkreis Segeberg eben auch, genauso wie in Schmetterlingen in Brandenburg und in Bayern.“
Ein erstaunliches Buch ist es wirklich – von der ersten bis zur letzten Seite. Eine Fülle von Fakten breitet der Autor vor uns aus, viele von ihnen der Allgemeinheit bisher unbekannt. Wobei sein „Trick“, wie gesagt, darin besteht, sie mit jenen zu verbinden, die sie erforscht haben. Wir dürfen dabei sein – ob in einer Videokonferenz der WHO oder 1892, als Dmitri Iwanowski in St. Petersburg an der Mosaikkrankheit von Tabakpflanzen forschte und dabei zum ersten Virologen der Welt geworden ist. Schweinegrippe, Spanische Grippe, Ebola, SARS – man bekommt eine Vorstellung, wie Pandemien entstehen und wie sie um die Welt gehen. Natürlich auch davon, wie sie bekämpft werden können. Wie zum Beispiel Vektor-Impfstoffe hergestellt werden und wie man auf die Idee dazu kam. Ein Pockenvirus als Träger für Impfstoffe? Das klingt gruslig, doch der abgeschwächte Virus ist nur ein „Dienstleister“, und die Methode ist nicht erst jetzt erfunden, sondern schon seit längerem erprobt. Auch in der Veterinärmedizin – Prof. Dr. med. vet. habil Sutter, in der Tierärztlichen Fakultät der Universität München Leiter der AG Impfstoffforschung, erklärt das genau. Kohlhöfer nimmt uns mit in sein Labor.
Inzwischen ist Sutter Leiter der Abteilung Virologie am Paul-Ehrlich-Institut, das für die Bewertung und Zulassung von Impfstoffen zuständig ist. Wie werden sie getestet? Wie wirken sie sich aus? Wie ist es mit den Nebenwirkungen? Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass dieses Buch auch eine vertrauensbildende Maßnahme ist. Gewissenhafte Forscher waren und sind auf diesem Gebiet am Werk, hochspezialisierte Leute. Und auf die trifft nun die Masse der Bevölkerung mit ihren Ängsten, auch ihrer Bequemlichkeit (könnte man das alles nicht einfach „laufen lassen“, mir wird schon nichts passieren). Und allerlei seltsame Theorien wachsen, angefeuert von den „sozialen Netzwerken“.
„Dem Staat Böses zu unterstellen und seinen Institutionen nicht zu vertrauen, ist keine besonders innovative Idee.“ So war es schon mit der Cholera-Epidemie im 19. Jahrhundert. Ärzte galten als „Verschwörer“, die angeblich eine „Überbevölkerung“ dezimieren, durch eine Quarantäne eine Inflation auslösen und dadurch noch reicher werden wollen. (Wie bekannt kommt einem das vor.) Der Schutz vor der Seuche wurde „wie ein Krieg organisiert“, aber das Sterben nahm gigantische Ausmaße an. In Berlin übernahm Robert Koch das Kommando, ließ Schulen, Theater, Geschäfte, Bäder schließen und „Tanzlustbarkeiten“ verbieten. Und vor allem erkannte er die Quelle des Übels, weil er an Tuberkulose- und Cholerabakterien forschte. Was ich bislang nicht wusste: Das Cholerabakterium wird uns erst dann so richtig gefährlich, wenn es sich mit einem Virus „infiziert“.
An verschiedenen Orten beugen wir uns über Krankenbetten. Die da leiden, sterben oder gesunden haben Namen. Es sind dokumentierte Fälle, die einen großen Beitrag für die Forschung geleistet haben. Denn erst muss ja jemand infiziert sein, bevor nach dem Erreger gefahndet werden kann. Virologielabore aus vielen Ländern sind vernetzt im „European Virus Archive Global“. Zu den bekannten Viren, die heutzutage relativ leicht chemisch herstellbar sind, wie der Berliner Mikrobiologe Eckard Wimmer erklärt, kommen ständig neue, die durch die Übertragung von Tieren auf Menschen erst gefährlich werden. „Vier Prozent aller Säugetiere leben in freier Wildbahn, sechzig Prozent in Ställen.“ Der Rest, das sind wir, die wir allein schon durch die Nahrung, ständigen Kontakt mit ihnen haben. „Viren verschwinden nicht mit ihren Wirten, sie suchen sich neue Lebensräume.“ Also hört es „nach Corona“, so das überhaupt sein wird, nicht wirklich auf. „Ständig greift uns etwas an , das ist von Anbeginn des Lebens so“, meint Kohlhöfer. Gelassenheit, ohne den Ernst der Pandemie zu verkennen – Christian Drosten, der den Autor wissenschaftlich beraten hat, nennt sein Buch „Popliteratur“. Er lobt es, weil es eine Vorstellung davon vermittelt, wie sich das Leben als Wissenschaftler anfühlt und dass dies ganz anders ist, als es Ihnen vielleicht einige Medien glauben machen wollen.“
Philipp Kohlhöfer: Pandemien. Wie Viren die Welt verändern. S. Fischer Verlag, 544 S., geb., 25 €.