„Wie ein Phantomschmerz“
„Ostflimmern“: Der Foto-Text-Band von Philipp Baumgarten und Annekathrin Kouhout hat die „Wende-Millenials“ im Blick
Irmtraud Gutschke
Aus sich selbst heraus Erfahrungen ergründen und frei darüber sprechen – umso leichter fällt das, wenn man sich in vertrauter Umgebung weiß. Obwohl die 15 Autorinnen und Autoren um Texte gebeten wurden und sie eingeschickt haben, entsteht das Bild einer geselligen Runde. In aller Offenheit kommt Verschiedenstes zur Sprache, und lesend fühlt man sich freundlich aufgenommen, auch wenn man älter ist und eine andere Herkunft hat. Die Älteste hier ist Jahrgang 1982, die Jüngste, Nhi Le, 1995. „Seit ich in Hamburg wohne, bemerke ich eine andere Leichtigkeit in mir“, schreibt sie, denn aus Schulzeiten hat sie noch das Wort „Fidschi“ im Ohr. Doch will sie ihren „viet-ostdeutschen Alltag“ nicht verleugnen. „Ich hab einfach keinen Bock, durch die Distanz jetzt so eine Art ‚Wessi-Ethnologin‘ zu werden, die sich die Ossis anschaut.“
Von DDR-Sozialisierung kann man in dieser Altersguppe kaum noch sprechen. Keinesfalls einheitlich sei diese Generation, meint die Herausgeberin Annekathrin Kohout. „Und doch scheint es so etwas wie Zugehörigkeitsgefühle zu geben und den Glauben oder zumindest den Wunsch nach einer kollektiven, aus der Herkunft begründeten Identität.“ Wie „ein Phantomschmerz im Nacken“ fühle sich das manchmal an.
Ihr Mitherausgeber Philipp Baumgarten spricht von „Scham“, nachdem er, nach seinem Studium 2014 in seine Heimatstadt zurückkehrte. Dass Zeitz „das Letzte“ sei, wie es in der FAZ hieß, hat ihn zu einer Fotoserie bewegt, die den ganzen Band durchzieht. „Auf paradoxe Weise nostalgisch und dystopisch“ nennt er seine Bilder. „Es geht um Denkmalkultur, um Tagebaunachfolgelandschaften und die Folgen der Deindustrialisierung. Es geht um sich angleichende Entwicklungen nach westdeutschem Vorbild, sie sind in den Gewerbeparks und Supermärkten als Nicht-Orte in der Peripherie zu finden …“
„Wendekinderblick“: Wenn die Eltern erst dachten „alles würde gut“ und heute leise bekennen , dass es ihnen gar „nicht gut nach der Wende“ ging (Paula Irmschler), wenn man sich sagen lassen muss, dass man „in einer Diktatur“ aufgewachsen ist, aber in Wirklichkeit war es „friedlich, geordnet, liebevoll und meistens ziemlich lustig“ (Anne Waak), wenn erstmal alles „immer bunter“ wurde, aber bald waren die „neu gegründeten, bunt bemalten Läden bankrott“ (Greta Taubert). Und dann erklärten einem beim Studium „mehrheitlich westdeutsche männliche Professoren …, wie sie die Welt sehen“, und „zitierten andere westdeutsche männliche Theoretiker, Autoren, Journalisten …“
Da ist durchaus Trotz im Spiel, die Herkunft nicht zu verleugnen. Aber auch viel Nachdenklichkeit. Was Soziologen als „Transformationserfahrung“ beschreiben, ist hier in persönlichen Geschichten aufgelöst, die anzuhören einem etwas zu verstehen hilft. Etwas das ähnlich ist und unterschiedlich, widersprüchlich in sich. Was es bedeutet, in Ostdeutschland aufgewachsen zu sein und dort zu leben, hat Annekathrin Kohout in 59 Kürzesttexte gebracht – so prägnant formuliert, dass man jeden einzelnen lange mit sich herumtragen kann. Soziale Probleme wie im für den Osten gibt es auch im Westen. Aber vielleicht „treten gesellschaftliche Verwerfungen“ dort „stärker“ zu Tage, so Philipp Baumgarten. Weil es einst die Vision einer anderen Gesellschaft gab, füge ich hinzu, als ob da etwas Unabgegoltenes in diffusem Phantomschmerz lebendig bleiben will. „Ostflimmern ist als ein Flackern und Zittern, als flüchtiges Schimmern oder als nervöses Zucken in einer bedrohlichen Atmosphäre zu verstehen.“
Philipp Baumgarten /Annekatrin Kohout: Ostflimmern. Wir Millenials. Mitteldeutscher Verlag, 176 S., geb., 30 €.