Die große Transformation
Corona-Krise: Paul Schreyer stellt kritische Fragen
Von Irmtraud Gutschke
In gewissem Sinne könnte es ja beruhigend sein, dass die Verteidigung gegen Biowaffen und Pandemien bereits geprobt worden ist. Die genaue Darstellung solcher Planspiele von „Dark Winter“ (2001), „Atlantic Storm“ (2005), „Clade X“ (2018) und Event 201 (2019), mit einer großen Zahl von Quellennachweisen unterlegt, ist das Herzstück von Paul Schreyers Buch „Chronik einer angekündigten Krise“. Diese internationalen Übungen – man wundert sich nicht, Pharmakonzerne, Vertreter verschiedener Regierungen, die Johns-Hopkins-Universität und auch das Robert-Koch-Institut unter den Beteiligten zu finden – sind nicht im Geheimen in den USA veranstaltet worden, es waren ja auch Medienvertreter anwesend, fanden aber in der Öffentlichkeit kaum Beachtung. Wer sich über Geldgeber informieren möchte, wird in diesem Buch fündig.
Paul Schreyer verharmlost Corona nicht, will aber die damit verbundene Krise tiefer verstehen. Da lässt es ihn aufmerken, wie mit dem Weltwirtschaftsforum in Davos vom 21.bis 24. Januar 2020 zeitgleich eine weltweite Medienmaschine anlief, um die dort abgestimmte Maßnahmen als alternativlos darzustellen. Dass dies bei „Event 201“ im Oktober 2019 schon geprobt worden war, finanziert durch WEF und Bill-Gates-Foundation und in Zusammenarbeit mit etwa 100 Konzernen, von denen hier einige auch genannt sind, macht ihn umso mehr stutzig, als Monate vor dem Bekanntwerden der Corona-Pandemie der Ausbruch eines „neuartigen zoonotischen Coronavirus“ simuliert wurde, „das von Fledermäusen zuerst auf Schweine und dann auf den Menschen übertragen wird“. Bei dieser Übung, sagt Paul Schreyer, sind auch Vertreter der chinesischen Seuchenschutzbehörde anwesend gewesen. Russland war nicht dabei. Die Politik dort hat indes auf Corona nicht anders reagiert als hierzulande.
„In Deutschland gelingt es uns ja ganz gut“, das höre ich immer wieder. Viele sind zufrieden, dass die Regierung Tatkraft zeigt und sich auf Experten stützt. Andere sind durch die „Macher-Pose“ irritiert, befürchten den Beginn eines autoritativen Umbaus der Gesellschaft und das Aushebeln demokratischer Mechanismen. So sieht es auch Paul Schreyer, der sich durch genaueste Recherchen (der Anmerkungsapparat im Buch umfasst 20 eng bedruckte Seiten) vor dem gängigen Vorwurf „Verschwörungstheorie“ schützt. Wobei dieser Begriff selbst schon fragwürdig ist, weil er sich auf die naive Vorstellung stützt, genauer gesagt, auf eine solche abzielt, alles würde ansonsten vor den Augen der Öffentlichkeit stattfinden. Es gäbe keine Lobbyisten, keine Absprachen im kleinen Kreis, keine militärischen Geheimnisse, keine Geheimdienste, kurz gesagt, es gäbe keine Machtpolitik, die zu jedem Staat gehört, im internationalen Gefüge sowieso.
Weil viele Menschen Machtpolitik nur verschleiert erlebt haben und täglich vom schönen Wort „demokratisch“ umgarnt sind, erschrecken sie, wenn die Staatsmacht den Schleier fallen lässt. Wobei Politiker wahrscheinlich auch nur Getriebene sind durch die Kapitalinteressen, die hinter ihnen stehen und vor allem durch den Wunsch, wieder gewählt zu werden. Da ist es bemerkenswert, was im Buch über das Weltwirtschaftsforum nachzulesen ist. „Den Kern der Organisation bilden die ‚strategischen Partner‘, etwa 100 Konzerne, die besonders einflussreich sind und die die Ausrichtung, Ziele und Programme gemeinsam steuern.“ Interessant auch, dass der WEF-Gründer, Klaus Schwab, von einem „Great Reset“ spricht, was er in seinem Buch „ Covid-19: The Great Reset“ öffentlich macht. Die Pandemie biete die Möglichkeit, „unsere sozialen und ökonomischen Grundlagen neu zu starten“. Entsprechend hat Angela Merkel in Davos von „gigantischen Transformationen“ gesprochen. „Die gesamte Art des Wirtschaftens und des Lebens, wie wir es uns angewöhnt haben, werden wir in den nächsten 30 Jahren verlassen.“ Da hatte sie Klimaschutz und Digitalisierung im Blick. Aber es geht um mehr. Der Publizist Norbert Bolz hat es auf den Debattenseiten des „Freitag“ eine „Revolution von oben“ genannt.
Der Soziologe Andreas Reckwitz spricht angesichts der Krise des Neoliberalismus, die sich im Übrigen als Profitabilitätskrise lange schon angedeutet hat, von einem notwendigen Paradigmenwechsel hin zu einer stärkeren politischen Regulierung, was Klimawandel, Infrastruktur, soziale und kulturelle Erosionen betrifft. Als ich 2019 sein Buch „Das Ende der Illlusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ las, fragte ich mich, wie er sich den Weg vom „apertistischen Liberalismus“ zum „einbettenden Liberalismus“ denn vorstellt. Jetzt kann ich es deutlicher sehen als einen Versuch, ohne grundsätzliche Systemveränderungen (die kommen werden, aber nicht jetzt, meinte Reckwitz in einem Interview der Friedrich-Ebert-Stiftung) einigen Widersprüchen des Kapitalismus die Spitze abzubrechen.
„Von oben“, ja. Klar, dass die „gigantischen Transformationen“, von denen Merkel sprach, auf Ohnmachtsgefühle derjenigen treffen, über deren Köpfe hinweg gehandelt wird. Da bietet Corona auch die Möglichkeit, staatliche Machtinstrumente auszutesten. Das ist es ja vor allem, was viele so aufbringt: Entmündigung. Zusätzlich zur Unsicherheit angesichts der Pandemie fühlen sie sich mit ihren Einwürfen nicht mehr repräsentiert. Was vor allem auch mit der „überhitzten, uniformen, von Zweifeln befreiten Medienberichterstattung“ zu tun hat, die Paul Schreyer in seinem Buch analysiert. So grobschlächtig wie insbesondere das Fernsehen Meinungssteuerung betreibt, müssen es viele nachdenkliche Leute als Beleidigung empfinden.
Die steigende Zahlen von Corona-Toten weltweit stellt Paul Schreyer nicht in Frage, kritisiert aber den verengten Blick. „Nach Angaben von UNICEF sterben jeden Tag (!) 15000 Kinder unter fünf Jahren an Hunger und vermeidbaren Krankheiten – eine permanente Katastrophe, für die es keine internationalen Krisenstäbe, keinen ARD-Brennpunkt, keinen täglichen Live-Ticker und keine dreistelligen Milliardenhilfen westlicher Regierungen gibt.“ Auch wenn viele momentan nicht über den eigenen Tellerrand hinausschauen, es ist eine weltweite Auseinandersetzung um ökonomische und geopolitische Vorteile, die durch Corona angeheizt wird. Irgendwann wird deutlich werden, wer die großen Gewinner und Verlierer sind. Die kleinen Leute aber, besonders auch die in den armen Ländern, insofern hat Paul Schreyer recht und das wissen sie auch selbst, spielen dabei kaum eine Rolle. Da kann man nur froh sein, wenn Bücher ein wenig mehr Durchblick geben.
Paul Schreyer: Chronik einer angekündigten Krise. Wie ein Virus die Welt verändern konnte. Westend Verlag, 176 S., br., 15 €.
Andreas Reckwitz: Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne. Edition Suhkamp, 306 S., br., 18 €.