Wo das Wünschen noch geholfen hat
Marshall Sahlins stellt sich an die Seite indigener Kulturen
Irmtraud Gutschke
„Die Menschen haben die Götter nicht aus dem Nichts erschaffen; sie haben lediglich die außermenschlichen Kräfte, von denen ihr Leben und Sterben abhängt, objektiviert oder genauer gesagt, subjektiviert“, meint der US-amerikanische Ethnologe Marshall Sahlins (1930-2021). Man kann den Gedanken sogar umdrehen: Je stärker sie sich durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik unabhängig wähnten, umso geringer wurde das Bedürfnis nach Geistern und Göttern. Wobei das Logisch-Rationale ihnen auch schnell wieder abhanden kommt, wenn existenzielle Abhängigkeit ihnen nahe rückt.
Worin besteht denn die Faszination der Märchen? Dass wir, siehe „Goldmarie“ mit unserem Verhalten etwas bewirken können und Gut-Sein sich auszahlt. Wo das Wünschen noch geholfen hat – wie wäre es wohl, in solch einer Welt zu leben? Sahlins, der bei indigenen Völkern vor allem am Amazonas, bei den Inuit, auf den Fidschi-Inseln und in Hawai geforscht hat, ist deutlich fasziniert von ihnen, ja scheint sie manchmal sogar in der Tiefe seines Herzens zu beneiden. Mit Anthropologen, die auf vermeintliche Rückständigkeit herabblicken, liegt er im Clinch. Dass Menschen immer an etwas glauben, davon ist er überzeugt. Da erscheint ihm der „nüchterne Transzendentalismus“, der sich zwischen dem achten und dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in Griechenland, dem Nahen Osten, Norditalien und China ausbreitete, auch Probleme zu bergen. „Die wesentliche Veränderung bestand in der Verschiebung des Göttlichen von einer dem menschlichen Handeln immanenten Präsenz in einer transzendentale „andere Welt“ mit einer ganz eigenen Realität: Die Erde ist seitdem den Menschen allein überlassen. Sie können sie seitdem mit ihren eigenen Mitteln und Überzeugungen entsprechend frei gestalten.“
„Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums“: Wie es sich anfühlt, in solch einer Welt zu leben, wie sie nur unsere ganz fernen Vorfahren kannten, ist in diesem Buch in vielen Einzelheiten zu erleben. Der Untertitel „Eine Anthropologie fast der gesamten Menschheit“ fordert ein universelles Verständnis ein. Denn er Übergang vom „Immanentismus“ zum „Transzendentalismus“ ist nicht bei allen Völkern vollzogen und vollständig schon gar nicht. Dass jemand mit Geistern in Beziehung zu stehen meint, gilt nicht überall als Zeichen einer Psychose, sondern vielleicht gar als besondere Fähigkeit. Ein immanenter Glaube bedeutet ja, in einem universellen und dabei differenzierten Netz von Beziehungen zu leben: Mit Göttern und Geistern, Vorfahren, den Seelen der Pflanzen und Tiere. Ja, die ganze Natur ist beseelt, was sich auch auf ein Haus oder einen Schlitten übertragen kann, wie man zum Beispiel im Band „Weiße Rentierflechte“ der nenzischen Schriftstellerin Anna Nerkagi nachlesen kann.
Auf dem Boden der einstigen Sowjetunion hätte Sahlins noch viele Funde machen können. Selbst bei einem weltberühmten Schriftsteller wie dem Kirgisen Aitmatow, dessen Eltern Kommunisten waren, wobei die Mutter immer einen Koran bei sich trug. Aber die vorislamischen Glaubensvorstellungen sind gerade im Norden Kirgistans bis heute lebendig. Die Wurzeln der alten Nomadenkultur reichen tief. Der Hochgebirgssee Issyk-Kul gilt seit altersher als „Auge des Himmels“. Wenn ich zu fühlen meine, dass das Wasser auf mich eine besondere Wirkung hat, dann ist das doch „Immanentismus“. Oder nicht? Und lebt nicht überhaupt in der Kunst oft so eine seltsame „subjektive Objektivität“? Im jüngst ebenfalls bei Matthes & Seitz erschienenen Buch „Mystische Fauna“ lässt es sich erleben.
Eine überaus spannende, erhellende Lektüre. Das Buch kommt in Reichweite in mein Regal. Wer weiß, was daraus noch wächst.
Marshall Sahlins: Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. Aus dem amerikansichen Englisch von Heide Lutosch. Matthes & Seitz, 271 S., geb., 28 €.