„Etwas Größeres als wir“
Navid Kermani sieht als Muslim im Staunen den Anfang jeglicher Religion
Irmtraud Gutschke
Auch der Verlag hat augenscheinlich dieses Buch geliebt: Goldene Schrift auf schwarzem Grund: „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“ – der Titel zitiert Scheich Abu Said, einen der berühmtesten islamischen Mystiker des elften Jahrhunderts. Ursprünglich ganz konkret gemeint, weil die Moschee überfüllt war, richtet sich die Aufforderung auch an uns, die wir lesen: Dein Standort unterliegt keiner Beurteilung, wage einen Schritt nach vorn, und es wird dir gut tun.
Als Sohn iranischer Eltern wurde Navid Kermani 1967 in der vom Protestantismus geprägten Stadt Siegen geboren. Später hat er im Fach Orientalistik promoviert und sich habilitiert, verließ aber bald die wissenschaftliche Laufbahn, äußerte sich als Publizist immer wieder auch zu aktuellen Fragen und wurde als Autor von nunmehr 25 Büchern mehrfach ausgezeichnet. 2015 hat er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten, verdientermaßen, weil sein gesamtes Schaffen auf Verständigung ausgerichtet ist.
In diesem Buch ist ganz direkt seine Tochter als ein „Du“ dabei. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, besucht den katholischen Religionsunterricht. Sie den Islam zu lehren, wie Navid Kermani seinem Vater versprechen musste, als dieser im Krankenhaus lag, konnte sich nicht auf Religion beschränken, sondern musste ihre vielen Fragen mit einbeziehen. Nahe ist er dem Islam in seiner liberalen, toleranten Auslegung, mit Bezügen zur Mystik der Sufis – wohingegen „ein Großteil unserer Gelehrten“ von dogmatischen Auffassungen ausgeht und „die lebendige und damit veränderliche Beziehung zum Koran verloren hat. Die Folgen sehen wir heute in der islamischen Welt, viele Jahrhunderte später: Rückständigkeit, Armut, Unvernunft, Humorlosigkeit, Fundamentalismus, Gewalt, Frauenfeindlichkeit und so weiter.“ Wie solches geschieht, wenn Religionen zu Herrschaftsinstrumenten werden, ließe sich hinzufügen.
Dass wir in dem Bewusstsein geboren werden, „dass es etwas Größeres als uns selbst gibt“, dass wir angesichts dessen viele Fragen haben, sei der Ursprung jeder Religion. Wobei im Wort „Islam“ auch „Unterwerfung“, „Hingabe“ und „Frieden“ steckt. „Denn der Muslim ist ein Mensch, der sich aus Einsicht in die eigene, menschliche Beschränktheit dem Unendlichen unterwirft. Muslim ist aber auch ein Mensch, der sich liebend und verzaubert dem Unendlichen hingibt … und der nicht dauernd gegen das Unerklärliche aufbegehrt …“ Das mag einem fremd sein, aber im Staunen liegt eine schöpferische Kraft. Da bin ich Navid Kermani auch dankbar für seine Ausführungen zu den Ostkirchen, die stärker als der Protestantismus Glauben mit allen Sinnen erleben lassen. Denn „nicht nur der Verstand betet“, sondern auch „das Gemüt, die Seele, der Leib“ …
Von Suren aus dem Koran kommt er immer wieder zu allen möglichen Fragen der Gegenwart, seien es die Kriege in der Welt, überhaupt die Gewalt, die Würde des Menschen, das Gebot der Gleichheit, der sogenannte „Sündenfall“, die Seele, die christlichen Sakramente, die vom Islam abgelehnt werden, Goethe (bei diesem glänzenden Artikel vermisste ich umso mehr ein Inhaltsverzeichnis im Buch, um es später leichter wiederzufinden) bis hin zu „Fridays for Future“ oder der Quantentheorie.
Auf eindrucksvolle Weise spricht hier ein Gläubiger, der im Ganzen „etwas Geformtes“ sucht, „Gutes, Sinnvolles, selbst wenn der Sinn nicht immer zu erkennen ist“. Ohne Religion, so Navid Kermani, fühlte sich der Einzelne „verloren, allein schon, wenn er in den Sternenhimmel schaut. Und wie erst, wenn er seinem eigenen Tod ins Auge blickt.“ Insofern ist er überzeugt, dass es gläubigen Menschen besser geht und Gesellschaften verarmen, wenn sie das Religiöse verdrängen.
Ich werde nie vergessen, wie ich in einem Philosophieseminar zu DDR-Zeiten eine Argumentation darüber schreiben sollte, dass Religion uns abhängig, unfrei macht, und wie ich dabei spürte, dass diese Aussage etwas ideologisch vereinfacht und absolutiert. Tatsächlich kann für viele Menschen Glaube auch ein Halt sein, um frei zu denken, Ideologie zu erkennen und darüber hinaus zu gehen. Als ob dir „etwas“ auf schwierigem Wege den Rücken stärkt.
Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen an Gott. Carl Hanser Verlag, 238 S., geb., 22 €.