Ein kannibalisches System
Nancy Frasers Analyse des Kapitalismus schreibt die Marxsche fort
Irmtraud Gutschke
Viel zu schnell ist die deutsche Medienöffentlichkeit über dieses systemkritische Buch hinweggegangen. So kann man es auch machen: nicht verschweigen, sondern klein halten. Nancy Fraser, überaus scharfsinnig als Philosophin und tatkräftig engagiert als Feministin, nicht nur in den USA, hat, wenn man so will, die marxsche Theorie weiterentwickelt, indem sie zugleich offen daran anknüpft. Dass die Haupttriebkraft des Kapitalismus der Profit ist und dass dieser durch Ausbeutung entsteht, ist selbstverständliches Wissen für jeden, der sich schon mal mit „M/E“ beschäftigt hat. Grob gesagt entsteht der Profit, indem die geleistete Arbeit nicht in Gänze vergütet wird, sondern zu einem großen Teil dem „Arbeitgeber“, wie man es heute nennt, zugutekommt. Dass dieser eigentlich dem „Arbeitnehmer“ etwas nimmt und nicht umgekehrt, gehört zu den Beschönigungen, von denen das ausbeuterische System lebt.
Nancy Fraser erweitert nun die Kapitalismusanalyse, indem sie die Ausbeutung in einem umfassenderen Sinne begreift, um „alle Unterdrückungen, Widersprüche und Konflikte der gegenwärtigen Situation in einem einzigen analytischen Rahmen“ zusammenzufassen. Plausibel, weil die Ausbeutung durch Lohnarbeit ohne unbezahlte reproduktive Arbeit nicht funktionieren würde und weil ebenso die rassistische, imperialistische Unterdrückung und die hemmungslose Vernutzung der Natur eine Existenzbedingung der Profitwirtschaft ist.
Dabei ist Frasers Feststellung besonders interessant, dass die Trennung von „produktiver“ Lohnarbeit und unbezahlter reproduktiver Arbeit „die modernen kapitalistischen Formen der Unterordnung von Frauen untermauert“ hat. Dabei sei eine Welt zerstört worden, „in der die Arbeit der Frauen, obwohl sie sich von jener der Männer unterschied, dennoch sichtbar und öffentlich anerkannt war“. Indem diese aber in die private häusliche Sphäre verbannt war, wurde sie entwertet, zumal es eben vornehmlich die Männer waren, die Geld verdienten. Wenn nun die Frauen gleiche Rechte haben sollen und ihnen der Weg in die Lohnarbeit offen steht, verliert die Reproduktion umso mehr an Anerkennung und Wert. Ein verzweifeltes Ringen um die Übertragung von Betreuungsaufgaben setzt ein. Auch auf diese Weise profitieren die reicheren Länder von den ärmeren, indem sie die Auswanderung von Frauen fördern, die im Ausland bezahlte Pflege- und Betreuungsarbeit leisten, um Geld nach Hause zu überweisen.
Ebenso trennt der Kapitalismus „zwischen einem natürlichen Bereich, der als kostenloser und ständiger Vorrat an ‚Rohmaterial‘ zur Aneignung gedacht ist, und einer ökonomischen Sphäre des Werts“. Vermarktlicht wird alles, sogar der Umweltschutz. Auch jenseits des offenen Kolonialismus, ohne die „gewaltsame und kontinuierliche Aneignung des Reichtums der unterdrückten und minorisierten Völker“ könnte das System so nicht funktionieren. Insofern ist der Kapitalismus mehr als eine Ökonomie. Und folglich müsse die Marxsche Theoriebildung im „feministischen, ökologischen, politischen, antiimperialistischen und antirassistischen“ Sinne ergänzt werden.
Das Titelbild des Buches zeigt eine Schlange, die sich in den eigenen Schwanz beißt, wobei der Ouroboros bereits in der Ikonographie des Alten Ägypten ein Symbol für Ewigkeit war. Aber das kapitalistische System verschlingt seine eigene Substanz, kann also keineswegs ewig sein, weil es seine eigenen Grundlagen verschlingt. Die Krise des Kapitalismus, so die Autorin, kann „nicht durch sozialpolitische Basteleien zu lösen sein“. Eine tiefgreifende strukturelle Transformation sei nötig. Wobei ihr klar ist: Nicht jeder, der unter dem gegenwärtigen System leidet, hat dieselben Nöte und Bedürfnisse oder setzt die gleichen Prioritäten. Dennoch entspringen alle Leiden und Bedürfnisse ein und demselben System. Es braucht eine Gesellschaftstheorie, die diese verborgenen Bezüge offenlegt. Und, wichtig für die aktuelle politische Diskussion: ökonomische, feministische und antirassistische Kämpfe gehören zusammen.
Nancy Fraser: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Edition Suhrkamp, 282 S., br., 20 €.