„Was auf dem Spiel steht“: Michail Gorbatschow argumentiert und geht aufs Ganze
„Neues Denken“ in der globalisierten Welt
Von Irmtraud Gutschke
Nach der Lektüre der letzten Seite betrachtet man ein Buch vom Ende her. Was schade ist in diesem Fall, weil es insgesamt zu empfehlen ist. Das Kapitel über Deutschland steht in der russischen Ausgabe in der Mitte, eingebettet sozusagen in europäische Belange. Hier bildet es mit Aussagen zur „friedlichen Revolution von 1989“ den Schluss. Milde ausgedrückt, unterfordert es kundige Leser, die aus eigener Erfahrung und aus zahlreichen anderen Publikationen, jüngst das Buch von Egon Krenz „Wir und die Russen“, vieles genauer wissen. Wie überhaupt vorliegender Band nicht seine Stärke im Rückblick hat. „Wir haben manches falsch eingeschätzt und Fehler gemacht“, heißt es im Vorwort. „Aber wir haben Veränderungen von historischem Ausmaß angestoßen, und das auf friedliche Weise.“ Wohl wahr. Nur, dass die Noch-Weltmacht dabei über den Kopf von Staaten und Menschen hinweg agierte und dabei, sicher auch eigener Not gehorchend, vieles außer Acht ließ, was hätte mitbedacht werden müssen. Natürlich will Gorbatschow nicht wahrhaben, wie er über den Tisch gezogen wurde. Dass er damals nicht darauf bestand, vertraglich festzuhalten, dass die NATO sich nicht nach Osten ausdehnt, diese Forderung wäre „geradezu lächerlich gewesen“, schreibt er, „denn der Warschauer Pakt existierte ja noch“. Glaubte er denn an den Fortbestand des Bündnisses, das er schon längst gelockert hatte. Jetzt beklagt er, dass die Ostausdehnung der NATO „das gegenseitige Vertrauen“ schwer erschüttert hat, „das mit dem Ende des Kalten Krieges gewachsen war“. Aber dass zu seiner Zeit Verträge zur Rüstungsbegrenzung mit den USA zustande kamen, die inzwischen gekündigt worden sind, hatte doch damit zu tun, dass er dafür etwas in die Wagschale werfen konnte.
Es würde ein Buch für sich füllen, um zu analysieren, wie der Putsch vom August 1991 das Gegenteil von dem bewirkte, was seine Initiatoren beabsichtigten. Die Unterzeichnung eines neuen Unionsvertrags wurde verhindert. Boris Jelzin kam an die Macht. Der besiegelte dann die Auflösung der UdSSR, der allerdings vorher schon die Abspaltung mehrerer Republiken vorausgegangen war. Dies und die damit verbundene Wirtschaftskrise (die freilich schon in Perestroika-Zeiten tief genug war) konnten den Eindruck erwecken, dass eine Großmacht sich von der Weltbühne verabschiedete, dass man russische Interessen nicht mehr in Betracht zu ziehen brauchte. In den 90er Jahren sei das Bruttoinlandsprodukt um fast die Hälfte gesunken, schreibt Gorbatschow, 1998 habe die russische Regierung vor der Zahlungsunfähigkeit gestanden. Als Wunschkandidat für seine Nachfolge hat Jelzin am 9. August 1999 Putin zum Ministerpräsidenten, der nach dessen Rücktritt am 31. Dezember verfassungsgemäß ins Präsidentenamt kam. Die Wahl im März 2000 gewann er mit 52,9 Prozent der Stimmen. „Man muss die Umstände bedenken, unter denen er handeln musste“, schreibt Gorbatschow. Im „Namen der Stabilität“ registriert er ein „Ungleichgewicht zugunsten von Exekutive und Präsidialgewalt“.
Als russischer Bürger und doch aus einer gewissen Distanz betrachtet er „das neue Russland“ und will es gleichzeitig anderen verständlich machen. Er will Vermittler sein. Denn: „In der heutigen Weltpolitik gibt es keine wichtigere und zugleich schwierigere Aufgabe, als das Vertrauen zwischen Russland und dem Westen wiederherzustellen.“ Unverantwortlich sei es, „Russland zum Feindbild zu machen“, wobei er den Platz verteidigt, den sein Land inzwischen auf der weltpolitischen .Bühne eingenommen hat.
Auf 185 Seiten versucht dieses Buch, die globale Welt zu erklären. Und bis auf eingangs geäußerte Einschränkungen gelingt das auf erstaunliche Weise. Von den USA über Europa, China und Indien, den Nahen Osten, Japan Singapur, Malaysia – knapp und präzise sind die Einschätzungen. Die Krise der Demokratie wird beleuchtet, die Verantwortung der Medien, die Bedeutung von Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen, der Aufschwung rechtsnationaler Kräfte. Und das alles unter der Prämisse, dass eine multipolare Welt entstanden ist, mit vielen politischen und wirtschaftlichen Widersprüchen und großen ökologischen Herausforderungen, in der an gemeinsamen Interessen gearbeitet werden muss. „Das Credo des neuen Denkens“ – etwa in der Mitte des Buches steht dieses Kapitel, das doch sein Herzstück ist. Auch des Autors, der diesen Begriff einst prägte. „Das nukleare Zeitalter birgt eine Gefahr für die Existenz der Menschheit, sie ist fragil geworden, droht vernichtet zu werden. Diese Gefahr ist nicht zu überwinden ohne Abschaffung der Atomwaffen.“
Nicht nur wegen der Krise in der UdSSR, auch aus dieser Einsicht hatte Gorbatschow ja seine Perestroika-Politik begonnen. Und es ist höchst achtenswert, dass er mit seinen 88 Jahren noch einmal mit ganzer Kraft daran appelliert, „was jetzt auf dem Spiel steht“.
„Denn letztlich bildet die Tatsache, dass wir alle Bewohner dieses Planeten sind, doch das uns im tiefsten gemeinsame Band. Wir atmen die gleiche Luft, uns allen liegt die Zukunft unserer Kinder am Herzen, und wir sind alle sterblich.“ Das Zitat stammt nicht von Gorbatschow, sondern von John F. Kennedy aus seiner Rede vor der American University am 10. Juni 1963.
Michail Gorbatschow: Was jetzt auf dem Spiel steht. Mein Aufruf für Frieden und Freiheit. Aus dem Russischen von Boris Reitschuster. Siedler Verlag. 186 S., geb., 18 €.