Der „hegemoniale Diskurs“
Michael Meyen über die Sektion Journalistik in Leipzig und die Vorzüge ostdeutscher Erfahrung
Von Irmtraud Gutschke
„Rückkehr nach Leipzig“ – so habe er sein Buch in Anlehnung an Didier Eribon nennen wollen, schreibt Michael Meyen. Das hätte bedeutet: „Ich werde den Osten Deutschlands erklären. Ich werde erzählen, warum die Menschen dort ‚drüben‘ unzufrieden sind. Warum sie all das nicht zu genießen scheinen, was die Einheit ihnen beschert hat, Autobahnen, hübsche Fassaden, Kreuzfahrten in die weite Welt, und stattdessen so wählen, dass die großen Medienhäuser in München, Hamburg, Frankfurt immer wieder Reporter ausschwärmen lassen müssen. Und: Ich werde das alles mit einer persönlichen Geschichte verbinden, die so unerhört ist und so spannend, dass sie ein ganzes Buch trägt.“ Dann aber hatte er gemerkt: „Diese Titel ist zu groß.“ Weil er ja eigentlich das Ende der Sektion Sektion Journalistik an der Leipziger Universität spiegeln wollte, wo er selber studiert hatte.
So detailliert, wie er dies tut – gestützt auf unglaublich viele Erinnerungen, Interviews, Aktenrecherchen, scheint mir das Kernstück dieses Bandes eine große wissenschaftliche Arbeit zu sein, die hier allerdings einen ganz persönlichen Anstrich bekommt und eine authentische Sprache, welche die Bezeichnung „literarisch“ wohl verdient. Michael Meyen ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Als er mir vor einigen Jahren für sein Buch „Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR“ gegenübersaß, erstaunte mich seine vorurteilslos offene Art, weil ich ihn für einen Westdeutschen hielt. Dabei hatte er, 1967 in Bergen auf Rügen geboren, sein Journalistik-Studium in Leipzig noch 1988 begonnen. Wie es zu seiner Professur in München kam, wird im Buch erzählt. Man freut sich für ihn, dass er bei West-Personal auf Einfühlung und Verständnis traf, was nicht allen beschieden war.
Nun schaut er auf jene zurück, die auf der Strecke blieben, Menschen, „die marginalisiert worden sind oder sich freiwillig zurückgehalten haben, weil sie in der DDR zur Elite gehört haben oder in diesem Land etwas werden wollten“. Da sind die vielen, vielen Lebensgeschichten, die hier ausgebreitet werden, eine humane Tat an sich. Auch wenn es keine Genugtuung sein kann für abgebrochene Karrieren oder solche, die gar nicht erst beginnen durften. Auf einen Absturz ins Ungewisse ist niemand in der DDR vorbereitet gewesen. Hinzu kam die Not, sich rechtfertigen zu müssen. Was die „Evaluierung“ für gestandene Wissenschaftler bedeutete, ist von der Sektion Journalistik übertragbar auf alle DDR-Institutionen, wo sortiert und ausgesondert wurde. Wobei es viele Beispiele gibt, wie schon vorher Gräben aufgerissen waren, wie im Bewusstsein, dass sich etwas ändern würde, Positionskämpfe losbrachen. Das was Günter Gaus „Wendewut“ nannte, ließ nach Hilfe von außen rufen. „Nur Leute aus dem Westen können uns retten“, hieß es in Leipzig. Die reisten dann an mit ihren Konzepten. Vom Tisch gewischt alles, was vorher an eigenen kreativen Ideen gewachsen war.
Die in der DDR aus der Sektion Journalistik zum „Neuen Deutschland“ kamen (ich habe in Jena Slawistik und Anglistik studiert), haben oft selbst vom „Roten Kloster“ gesprochen, ob sie das Buch von Brigitte Klump gelesen hatten oder nicht. Freilich sollten dort Leute ausgebildet werden, die „parteilich“ für die DDR einstanden. Dass es dabei auch ein schöpferisch-kritisches geistiges Leben gab, bezweifle ich nicht, weil es im Zentralorgan der SED intern ebenso war. Dass eine „Alternativgruppe“ in Wendezeiten ein Papier erarbeitete, das auf eine „umfassende demokratische Öffentlichkeit“ zielte, war so großartig wie utopisch. Die Sektion Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig wurde im Dezember 1990 abgewickelt. 1991 schüttelte die Universität auch Karl Marx ab. 7000 von 12000 Mitarbeitern, sagt Wikipedia, wurden entlassen. Welches Potenzial an Kreativität da vergeudet wurde, um kritischem Einspruch von vornherein die Luft abzudrücken!
Eine „Vereinigungsmaschinerie, die nur einen kleinen Teil der Ostdeutschen brauchte, um genauso weitermachen zu können wie bisher“ – wohl aus momentan sicherer Position, ist es mutig, wie Michael Meyen sich hier offenbart. „Wie ich Parteijournalist werden wollte“, heißt ein Kapitel, in dem er auch erzählt, wie er sich für drei Jahre zum Wachregiment des MfS nach Rostock verpflichtet hat und dort in die SED eintrat. Ringen um Aufrichtigkeit: „Wie hätte dieser Text ausgesehen, wenn es die DDR noch geben würde?“, überlegt er. „Oder, ein paar Nummern kleiner: wenn ich nicht Professor in München wäre, als Beamter auf Lebenszeit?“ Denn Erinnerung, so sagt er zu Recht, „ist kein Roman, den man ins Regal stellen und bei Bedarf aufschlagen kann, sondern ein Film, den es nur in unserem Kopf gibt“, der veränderlich ist durch äußere Einflüsse. Da kommt der Kommunikationswissenschaftler zu Wort, der genau weiß, wie Medien, Lehrbücher, Ausstellungen, Festreden, Dokus usw. „direkt oder indirekt den Rahmen abstecken, in dem sich alle ohne Gefahr für das eigene Ansehen bewegen können“. Insofern erzeugt der „hegemoniale Diskurs“, der aus der DDR partout eine „Diktatur“ machen will, einen „Unrechtsstaat“, ein „totalitäres Regime“, einen Druck, auch wenn man gegen ihn anschreiben möchte.
Meyen zitiert die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe, „dass Gesellschaften stets gespalten sind“ und „durch hegemoniale Praktiken konstruiert werden“. Die Geschichtspolitik, „die ein bestimmtes Bild der DDR durchgesetzt hat“, gehört für ihn zu einer solchen hegemonialen Praxis. „Sie hilft, eine Ordnung zu stützen, die das Privateigentum vergöttert und einen Kult um das Individuum entfacht, obwohl weite Teile der Bevölkerung gar nicht die Möglichkeit haben, das auszuleben, was in ihnen steckt.“ Dass Medien eben nicht schlichtweg Realität spiegeln, sondern „Definitionsmachtverhältnisse“, ist eine wichtige Feststellung. Man könnte auch mit Marx sagen, dass der Staat eben das Machtinstrument der herrschenden Klasse ist. Und doch muss man sich immer wieder aufraffen und den „subjektiven Faktor“ ins Spiel bringen, das eigene Gefühl für Verantwortung und Gewissen. Und den Zweifel „gegenüber allem, ‚was von oben‘ kommt.“ Ostdeutsche, die erlebt haben, „wie man ein System verändern kann, das man für unendlich hielt“, haben da womöglich einen Vorsprung an Erfahrung.
Michael Meyen: Das Erbe sind wir. Warum die DDR-Journalistik zu früh beerdigt wurde. Meine Geschichte. Herbert von Halem Verlag. 369 S., br.,
28 €.