„Selbstmord? Nein danke.“
Michael Lüders beleuchtet weltpolitische Zusammenhänge von Schwedt bis Taiwan
Irmtraud Gutschke
Wer immer nach Antworten sucht, die heutige Situation im Land und in der Welt betreffend, dem sei dieses Buch empfohlen. Michael Lüders spricht Klartext auf Grund umfassender Recherchen. Was er an Fakten zusammengetragen hat, ist aufschlussreich und zum Teil überraschend. Seine Schlussfolgerungen indes findet sich bereits im Titel: „Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen“.
Werte sind freilich etwas Schönes. Menschenwürde, Freiheit … Frieden gehört dazu. Und Wohlstand für alle auch. Soziale Gerechtigkeit … Wie weit wäre der Weg zu einer werteorientierten Innenpolitik, bevor man anderen Ländern den moralisierenden Schulmeister gibt, der sogar noch den Rohrstock schwingt. Wie schlecht steht das gerade uns Deutschen zu Gesicht.
Im Grunde sei „werteorientierte Politik“ ein „modernes Märchen“, so Michael Lüders, „ein rhetorisches Placebo, … das emotionale Zustimmung verheißt und hilfreich vermeidet, das zu benennen, worum es eigentlich geht“. „Hegemoniale Interessen“, die zu verschleiern sind, um die „Unterstützung der Bevölkerung nicht zu verlieren, Unruhen oder gar Aufstände zu vermeiden“. Wobei das Buch auf eine gespaltene Öffentlichkeit trifft. Die einen werden die Überzeugungen des Autors teilen. Die anderen wird er schwer auf seine Seite bringen, auch wenn er die „imperiale Ausrichtung“ russischer Politik kritisiert und den Einmarsch in die Ukraine verbrecherisch nennt. , Beleuchtet er doch detailliert die Vorgeschichte des Konflikts im Hinblick auf das geopolitische Interesse der USA, nach dem Zerfall der UdSSR keinesfalls einen „Schulterschluss der EU mit Russland zuzulassen. Auch stellt er klar, dass der Krieg nicht erst am 24. Februar 2021 begann. Wie die Kiewer Machthaber seit 2014 militärisch gegen die Autonomiebestrebungen in der Ostukraine vorgingen, unterbinden, ist vielen nicht bewusst.
Verteidigung der russischen Bevölkerung und eigener Sicherheitsinteressen – doch Angreifer sind moralisch angreifbar. Mitgefühl für die Überfallenen kann begründen, was sonst keine Zustimmung finden würde. Darauf reagiert Michael Lüders mit politischer Nüchternheit. Gegen die naive Vorstellung der deutschen Außenministerin, „Russland zu ruinieren“, setzt er gleich zu Beginn des Buches seine Zweifel: „Kann es gelingen, den größten Flächenstaat der Welt und einen der wichtigsten Energielieferanten wirtschaftlich in die Knie zu zwingen? Die sachliche Antwort lautet kurz und bündig: Nein.“ Dagegen treffen „die Folgen der Boykottmaßnahmen Deutschland härter … als jedes andere westliche Land und, wie es scheint, auch mehr als Russland selbst“.
Was ich nicht wusste: Die Erdölimporte durch die Pipeline „Drushba“ wurden seitens der EU von Sanktionen ausgenommen, sodass Ungarn, Tschechien und die Slowakei weiterhin günstig russisches Öl beziehen können. Niemand hat die Bundesregierung gezwungen, die Importe über Schwedt zu stoppen. Um mit dem „Reich des Bösen ein für alle Mal zu brechen“, wird ein hoher Preis gezahlt. Was nichtrussisches Erdöl kostet und wer daran verdient, hier wird es genauestens dargestellt. „Westliche Mineralölkonzerne konnten ihre Gewinne in astronomische Höhe treiben, und russisches Öl, „neu etikettiert“, kommt zu uns zu fantastischen Aufpreisen.“ US-Konzerne haben keine Skrupel, daran zu verdienen. Den langfristigen Lieferverträgen für russisches Gas hat Deutschland viel von seinem Wohlstand verdankt. Der Verzicht wird sich – wie hier im einzelnen dargestellt – in den nächsten Jahren noch auswirken.
„Aus ideologischen Gründen in weltweite Lieferketten einzugreifen, ähnelt einem Griff in die Speichen bei laufendem Rad.“ Viele Unternehmen verlagern schon ihre Produktion ins Ausland, wo die Energiepreise günstiger sind. „Auf dem Weg in die Deindustrialisierung“? Dabei zeigen sich die Grünen – ihrem Wandel zur Kriegspartei gilt ein ganzes Kapitel – in geradezu skandalösem Maße abgehoben gegenüber den Malochern, „die zu viel duschen, mehr Fleisch als Gemüse essen, zu dick sind, die falschen Autos fahren und einfach nicht verstehen wollen, dass in der Ukraine auch unsere Freiheit verteidigt wird“. Was für ein Trugbild! Skrupelloser ukrainischer Nationalismus bis hin zur Verherrlichung von Nazismus, Oligarchie, Korruption und Vetternwirtschaft widersprechen doch westlichem Werteschema. Michael Lüders spricht von 250 000 Toten seit 2021, stellt dar, welche Friedensverhandlungen es gab und wie sie scheiterten. „Spätestens seit Mai 2021 ist der Krieg in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg zwischen Washington und Moskau“. Das ist bekannt, aber nicht, dass die USA ihre Milliarden-Unterstützung als Darlehen deklarieren, das zurückzuzahlen ist. Und dass sie inzwischen aus Kosten-Nutzen-Gründen vorsichtig zurückrudern. „Die Tragik der Deutschen besteht darin, dass sie in ihrer großen Mehrheit subjektiv davon überzeugt sind, es gäbe tatsächlich eine „Wertegemeinschaft“ mit den USA, sie seien gar unsere ‚Schutzmacht‘. In Wirklichkeit sind wir aus amerikanischer Sicht geostrategische Verfügungsmasse (‚nützliche Idioten‘ wäre sachlich nicht falsch) und ein wirtschaftlicher Konkurrent, den es einzuhegen gilt. Mit Erfolg, den gesprengten Pipelines und den Russland-Sanktionen geschuldet.“ In dem von Washington geschürten Konflikt mit China, auf den Michael Lüders im letzten Kapitel eingeht, könnte deutsches Versagen eine tragische Fortsetzung finden.
Boykott der chinesischen Wirtschaft – nicht auszudenken wären die wirtschaftlichen Folgen für unser Land. „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“ – was jeder Bundesminister mit seinem Amtseid schwört, ist nicht folgenlos zur Disposition zu stellen. Ein Rechtsruck droht. Insbesondere die Grünen in ihrer Abgehobenheit könnten Wegbereiter sein.
Michael Lüders: Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. Goldmann Verlag, 256 S., br., 18 €.