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Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

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Michael Lüders: Die scheinheilige Supermacht

„Die künftige Welt wird eine multipolare sein“

Michael Lüders: Warum wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen

Von Irmtraud Gutschke

Es gibt eine emotionale Bindung an die USA, gerade im Westen Deutschlands, wo der Marshallplan eine schnelle Erholung von den Kriegsfolgen brachte, wo mit Filmen und Rockmusik ein freies Lebensgefühl aufkam und die USA überhaupt zum Sinnbild eines Landes wurden, wo jeder alles erreichen konnte, so er es nur wirklich will. Aber es ist dabei zu verblassen, dieses Bild vom Freien Westen. Heute sieht laut „Democracy Perception Index“ des Marktforschungsinstituts Latana eine Mehrheit der Deutschen den Einfluss der USA auf die globale Demokratie eher kritisch. 36 Prozent im Frühjahr 2021 der Befragten meinen, dass die USA eine größere Bedrohung für Deutschland darstellen als China (33 Prozent) oder Russland (29 Prozent). Das war damals gewiss noch als Folge der Amtszeit von George Trump zu bewerten. In seinen Nachfolger Biden wurden Hoffnungen gesetzt, aber durch das Afghanistan-Desaster auch schnell wieder verspielt.

Als Nahostexperte ist Michael Lüders in diesen Tagen gefragt, diese Niederlage zu kommentieren. In seinem Buch „Die scheinheilige Supermacht. Warum wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen“ greift er weiter aus. „Die USA sind kein selbstloser Hegemon, sondern ein Imperium. Und ein Imperium betreibt grundsätzlich eine imperiale Politik“, schreibt  mit der Autor. Und es ist keine gewagte Prognose, dass Präsident Biden ebenso wie seine Vorgänger weltweit Militär und Geheimdienste einsetzen wird, um die eigene Vormachtstellung zu wahren. „Der Öffentlichkeit gegenüber betonen die gemeinsamen Werte den Einsatz für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte.“ In diesem Buch wird die andere Seite der Medaille dargestellt.

Analysiert wird die Politik gegenüber dem Iran, beginnend mit der Entführung des Tankers „Grace 1“ (hierzulande medial lediglich zur Kenntnis genommen, mehr nicht) bis hin zu den Sanktionen als Waffe, die nicht erst seit heute gegen Iran angewandt wird. „Ohne Sanktionen würde die iranische Wirtschaft boomen, die politische Bedeutung Teherans entsprechend zunehmen“, schätzt der Autor ein. „Nicht zuletzt auf Kosten Saudi-Arabiens und Israels, der beiden wichtigsten Verbündeten der USA“, die folglich an einem erstarkenden Iran nicht interessiert sind, „und sei es, um Russland und China über den Umweg der Iran-Sanktionen zu schwächen“.

Der Titel „Die scheinheilige Supermacht“ könnte vor allem Polemik vermuten lassen, aber was geboten wird, sind große historische und geopolitische Zusammenhänge, die vielen Lesern so nicht präsent sein dürfen. Wie war es mit dem Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg? Wie zeigte sich die Wirkungsmacht der „Mont Pèlerin Society“? Wer ist Mitglied der Trilateralen Kommission? Wie wurde der Putsch in Guatemala 1954 organisiert? Wie war das mit dem Sturz Allendes?  Wie wurde Saddam Hussein zum Dämon? Worum geht es wirklich am Golf? Wissen Sie, was Petrodollar-Recycling ist? Was sagt Ihnen der Name Soleimani noch? Aber die Folgen von dessen Ermordung waren immens … Schließlich die großen weltpolitischen Akteure Russland und China: Nord Stream 2 und Nawalny kommen ins Bild. Trump sucht vergeblich, China für Corona verantwortlich zu machen. „Symbiotische transatlantische Beziehungen hatten während des Kalten Krieges ihre Berechtigung“, stellt Lüders fest (1959 in Bremen geboren). Nach 1989 jedoch haben die Europäer und namentlich deutsche Regierungen die amerikanische Konfrontationspolitik gegenüber Russland viel zu oft mitgetragen … Ein freier Personen- und Warenverkehr zwischen Lissabon und Wladiwostok mag nicht im Interesse Washingtons liegen, wohl aber im Interesse der Völker diesseits und jenseits des Urals … Die künftige Welt wird eine multipolare sein.“   

Das Buch steuert immer wieder auf das Thema Medien hin, auf die Frage, wie es denn funktionieren kann, dass wichtige Fragen in den Hinterzimmern er Macht entschieden werden und die Bevölkerung nur das erfährt, was sie erfahren soll.  Passend dazu ein Zitat von Axel Springer, mit dem der Band neben drei weiteren eingeleitet wird: „Wahr ist, was morgen in der Zeitung steht.“

Michael Lüders: Scheinheilige Supermacht. Warum wir aus dem Schatten der USA heraustreten müssen. Verlag C. H. Beck, 293 S., br., 16,95 €.  

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