Kafkas Axt
Melanie Möller sammelte „provozierendes Material für Zartbesaitete“
Irmtraud Gutschke
Eine Streitschrift für „die Freiheit der Literatur“ kündigt der Verlag an. Aber dieses Buch ist mehr als das. Es ist ein wilder Ritt durch die Literatur von den Epen Homers und der Bibel bis zu Astrid Lindgren und Annie Ernaux. Scharfsinnig und sprachgewandt. Da hat Melanie Möller, Professorin für Klassische Philologie und Latinistik an der FU Berlin, am Formulieren wohl selbst Genuss gehabt. Wobei auch Zorn ihr die Feder führte. Unglaublich: Seit Jahren wird mit großem Aufwand daran gearbeitet, die Bibel in das Gewand „gerechter Sprache“ zu kleiden. Schließlich ist die Heilige Schrift männerdominiert, sexgeladen und voller Gewalt.
Inzest (die zwei Töchter Lots wurden schwanger von ihrem Vater), Blutrache und Meuchelmord – die Lektüre besonders des Alten Testaments kann tatsächlich erschrecken. Was Melanie Möller indes grundsätzlich mit dem Sinn von Literatur in Zusammenhang bringt. Gleichsam als Motto des Buches wählte sie ein Zitat von Franz Kafka: „Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? … ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“
Nun wollen viele Leute einen solchen „Faustschlag“ gerade nicht bekommen. Ihr Recht ist es, in der Lektüre Entspannung und Erbauung zu suchen. Wenn die Autorin auch „provozierendes Material für Zartbesaitete“ verspricht, dass Menschen sensibler werden (können), ist eine zivilisatorische Errungenschaft. Meiner kleinen Enkelin mag ich manche von Grimms Märchen nicht vorlesen, die mir als Kind Schreckensträume brachten. Aber das bedeutet nicht, dass diese Texte umgeschrieben werden sollten, wie es schon mehrfach geschah. „Cancel culture“, „wokeness“, „political correctness“ oder „sensivity reading“ – Melanie Möller hat Recht: „Früher einmal hörte es auf den schlichten Namen Zensur.“ Die obliegt nun keiner Behörde mehr, sondern ist allgemeiner Beteiligung freigegeben.
Stattdessen müsse man den „Glutkern“ der Originaltexte am Glühen halten, weil sie uns viel über die Zeit ihrer Entstehung sagen und überhaupt über die Abgründe des Menschen, die unsere Gattung seit jeher und auch künftig begleiten. Die Unfähigkeit, zwischen Kunst und Leben zu unterscheiden, gab es ebenfalls schon immer. Was in einer pluralistischen Gesellschaft möglich ist – Haltungen zu akzeptieren, auch wenn sie nicht den eigenen entsprechen –, gerät vor dem Hintergrund krisenhafter Entwicklungen in Gefahr. Joseph Brodskys Schmäh-Gedicht „Auf die Unabhängigkeit der Ukraine“ von 1992 z.B. kann heute in den Dienst antiukrainischer Propaganda gestellt werden. Heißt das, den Literaturnobelpreisträger zu verdammen oder zeigt sich darin vielmehr das „Unvermögen, mit Brüchen und Widersprüchen“ umzugehen?
Viele Künstler gab es, die schreibend etwas in sich kompensieren, der Enge ihres Umfelds entgegensetzen, ja schockieren wollten. Subjektiv moralisch zu werten, was der Phantasie eines Dichters entsprang (viele Lesende tun es unwillkürlich), wird gesellschaftlich problematisch, wenn z.B. Mitglieder der Künstlergruppe „Frankfurter Hauptschule“ 2019 Goethes Weimarer Gartenhaus mit Klopapier bewarfen, um auf sein „misogynes Frauenbild“ aufmerksam zu machen. Dagegen geht Melanie Möller detailliert lustvoll auf Goethes „Römische Elegien“ ein, auf Celines „Reise ans Ende der Nacht“, Astrid Lindgrens „Pippi Langstrumpf“, Ernaux‘ „Erinnerung eines Mädchens“ vor allem aber auf Werke der Antike, die ja ihr Fachgebiet sind. Dass sie sich über das Buch ihrer Potsdamer Professorenkollegin Katharina Wesselmann, „Die abgetrennte Zunge. Sex und Macht in der Antike neu lesen“, geärgert hat, verbirgt sie nicht.
Dass der Anspruch der „woken“ Front mit ihrer speziellen Begrifflichkeit „von ‚Rassismus‘ über ‚Sexismus‘ (mit den diversen Spezifizierungen in ‚Heterosexismus‘ und ‚Cissexismus‘), ‚Ableismus‘ (=Be-Hinderte), ‚Klassismus, ‚Ageismus‘ bis zu ‚Adultismus‘“ auch einen ökonomischen Aspekt hat, wird hier nur angedeutet. Das weit verbreitete Bedürfnis, von geistiger Produktion zu leben, führt zu Konkurrenz. Die da als Kontrahenten erscheinen, wollen im Grunde dasselbe: Aufmerksamkeit.
Einem bösen Spiel anheimgegeben sind Leserinnen und Leser, die in ihrem eigenen Urteilsvermögen nicht ernst genommen und statt dessen pseudo-pädagogischen Bemühungen unterzogen werden. Sollte man das vielleicht „Hybrismus“ nennen? „Das Gute ist ja, dass auch Leser im Leben anständig, menschlich, bleiben können, selbst die, die Freude am Bösen, ‚Verletzenden‘ in der Kunst haben“, meint Melanie Möller. Stimmt, sonst müssten ja alle Krimis und Thriller vom Buchmarkt getilgt werden.
Melanie Möller: Der* entmündigte Leser:r“. Für die Freiheit der Literatur. Eine Streitschrift. Galiani Berlin. 237 S., geb., 24 €.