Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Landolf Scherzer: Erkundungen auf der Krim

„Vertraue deinen Augen und Ohren“

Landolf Scherzer war unterwegs auf der Krim

Irmtraud Gutschke

Kaum kommt er in die Küche, wird ihm usbekischer Plow aufgetan. Danach gibt es Tee, geschnittene Äpfel, Eierkuchen mit Feigenkonfitüre. Schließlich eine Flasche Krimwein. „Muslimische Krimtataren trinken Alkohol?“, wundert sich der Gast. „Erst im Geschäft gekauft, wird er zu Alkohol“, sagt Großmutter Gulnada.

Ihr kleines aus Muschelkalksteinen gebaute Haus in Nowaja Derewnja, wo sie mit ihrer vierköpfigen Familie lebt, wird Landolf Scherzers Quartier bei seinen Erkundungen auf der Krim. Sein Freund Wassja hat es ihm vermittelt, bevor er mit seiner Frau aus Deutschland nach Australien ausgewandert ist. Nach Russland wollten sie nicht, weil sie dann wegen der EU-Embargopolitik nicht zu ihren Kindern nach Deutschland fahren dürften. „Ich fühle mich hier nicht mehr gut. Für die deutsche Politik und ihre Medien ist mein Russland nur noch ein alter neuer Feind“, schreibt er in seinem Abschiedsbrief. „Vielleicht kannst Du für mich auf die Krim fliegen? Und alles aufschreiben …“

Reise in ein Konfliktgebiet. Immerhin konnte Landolf Scherzer 2021 noch von Berlin nach Moskau und von da nach Simferopol kommen. Den russischen Einmarsch vom Februar 2022 hat er nicht vorausgesehen. Aber zu spüren bekam er, dass es einen Krieg  bereits seit 2014 gab, als die Ukraine gegen die selbsternannten Republiken Donezk und Lugansk militärisch vorging (von 13 000 Toten in den Ostgebieten ist die Rede) und immer wieder die Rückeroberung der Krim ankündigte, die per Referendum von Russland annektiert worden war. Wer mit russischem Visum auf die Krim reist, macht sich nach ukrainischem Gesetz des illegalen Grenzübertritts schuldig und darf für mindestens zwei Jahre keinen ukrainischen Boden mehr betreten. „Ich bin ein Illegaler“, sagt Landolf Scherzer.

Dabei war die Schwarzmeerküste der Krim doch seit der Zarenzeit ein Urlaubsparadies. Paläste und Sanatorien, aber unserem Autor gelingt es nur ein einziges Mal, im Meer zu baden. Freund Wassja hatte ihm ein brisantes Thema ans Herz gelegt: „Ich bin nicht, wie Du denkst, ein Russe. Ich bin ein Krimtatar! Aber ich wurde nicht auf der Krim, sondern in Usbekistan geboren. In der Verbannung!“ Im Mai 1944, nachdem die Rote Armee die Krim von deutscher Besatzung befreit hatte, „ließ Stalin alle auf der Krim lebenden Tataren nach Sibirien und Mittelasien verbannen. Über 200.000 in verschlossenen, überfüllten Güterzügen. Viele starben. Die überlebten wurden 1948 offiziell zu „Umsiedlern auf Lebenszeit“ erklärt. Erst 1989 durften sie zurück in ihre alte Heimat, wo ihre Häuser natürlich nicht auf sie gewartet hatten.

Um diesbezüglich noch genaueres zu erfahren, fand Landolf Scherzer in der großen tatarischen Familie Baraschew eigentlich die besten Voraussetzungen – bei Großmutter Gulnada eine bescheidende,  freundliche Bleibe und sechs Brüder, die ihr bestes tun, damit er möglichst viel sieht und erlebt: Jussuf ist der „Kuhbruder“, Hussein der „Autobruder“, Wait, der „Geschichtsbruder“, Ibrahim, der „lustige Bruder“, Kerim wohnt in Simferopol. Doch zunächst einmal fährt ihn der Jüngste, rothaarig, mit dem Spitznamen „Alexander der Große“, über eine Schlaglochstraße zur Meldebehörde …

Da merkt man schon: Nicht unbedingt eine Komfortzone für ausländische Touristen ist die Krim, zumal jetzt nicht mehr. Aber Landolf Scherzer hat bei seinen Reisen durch Europas Osten, nach China, Griechenland, Kuba sowieso eher die Herausforderungen gesucht. Auch diesmal spürt man sein großes Talent, spontan zu reagieren, ohne sich selbst durch Vorgefasstes zu blockieren, die gute Laune nicht zu verlieren und alles zu nehmen, wie es kommt. Auf Menschen, die ihm begegnen, geht er so freundlich zu, dass sie gern mit ihm reden, wobei ihm die russische Sprache zugutekam.

Durch den Kurort Saki spaziert er, wo leider von den Sanatorien, berühmt für den Heilschlamm, „auf Hunderten Metern nur Ruinen“ geblieben sind.  Nach 1992 hätte man die Kurbehandlung selbst bezahlen müssen. Und für die Erhaltung der Gebäude fehlte dem ukrainischen Staat das Geld. Das hört er von zwei Frauen, nachdem ihm ein Ingenieur namens Wladimir von dem neuen Gasturbinenwerk erzählt hatte. „Dadurch könnte die 2015 von der Ukraine gesperrte Stromversorgung auf der Krimi wieder stabilisiert werden.“ Dass auch das Wasser knapp wurde, weil der Nord-Krim-Kanal seitens der Ukraine durch einen Damm verschlossen worden war, erfährt man später. Gleich nach dem Einmarsch hat das russische Militär diesen Damm gesprengt.

Dass sich die Halbinsel seit 2014 in einer regelrechten Blockade befand – von Strom und Wasser abgeschnitten ebenso wie vom internationalen Zahlungssystem, dass die EU ein Exportverbot für Waren jeder Art verhängte –, was das für die Menschen dort bedeutet, ist in der deutschen Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen worden. Nur vom Meer aus oder über die 19 Kilometer lange Krim-Brücke war die Versorgung der rund 2,3 Millionen Einwohner möglich. Auch die Drohung, die Brücke zu zerstören, gehört zu den Voraussetzungen dieses Krieges, der sich inzwischen bis in die  Südukraine ausdehnte, um eine Landverbindung zur Krim zu gewährleisten. Das russische Vorgehen schockiert uns alle. Es richtet sich gegen unsere Interessen, zumal Deutschland sich zur Kriegspartei hat machen lassen. Aber wer hat je an die Menschen auf der Krim gedacht? 

Landolf Scherzer füllt Wissenslücken. Die Krim war ja seit der Eroberung durch Zarin Katharina II. 1783 russisch gewesen. Wie ein Gutsherr hat Chrustschow das Gebiet 1956 der Ukraine geschenkt. „Es bleibt ja schließlich in der großen Sowjetfamilie. Dachte er.“ Vom Stützpunkt der sowjetischen Marine in Sewastopol erzählt Wait, der „Geschichtsbruder“. Der Nutzungsvertrag bis 2017 war von der ukrainischen Regierung , die eine NATO-Mitgliedschaft anstrebte, 2014 gekündigt worden.

Fakten, keine Argumentationen. „Du darfst nicht entscheiden: das ist gerecht! Das ist ungerecht! Das ist gut oder das ist schlecht für die Zukunft der Krim!“, diesen Rat hatte der tatarische Filmemacher Nasur Yurushbaev seinem Freund Landolf in einem Brief mit auf den Weg gegeben. „Schau Dir immer nur die Menschen an. Hör aufmerksam zu, was sie sagen … vertraue Deinen Augen und den Ohren.“

Und so tun wir es auch beim Lesen. An der Seite des Autors sind wir auf Entdeckungen aus. Wir erfahren von Straßenbahnen aus Gotha, die auf der Krim unterwegs sind, von Joseph Beuys‘ Flugzeugabsturz, mit dem er seine Vorliebe für Fett und Filz erklärte, von den jüdischen Karäern, die der Shoah entgingen, von Gorbatschows während des Augustputsches 1991 streng bewachter Datscha, und auch die Konferenz von Jalta darf nicht fehlen. Vor dem Denkmal von Churchill, Roosevelt und Stalin ließ sich Landolf Scherzer fotografieren. Auch viele seiner Gesprächspartner sind auf Fotos verewigt, leider nicht die Frau, die ihm einen Heiratsantrag machte. Neun Monate später, als er mit seinem Freund Gerd ein zweites Mal auf die Krim reist, muss er sich damit aufziehen lassen.

Wie er es erlebt hat, so hat er es aufgeschrieben – im Präsens, wir sind sozusagen an seiner Seite. So aufgeschlossen ihm die Leute entgegenkommen, so ist er doch mitunter auch auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. zu stoßen. „Manche schweigen bis zum Tod über ihre Vergangenheit. Ein immer noch heftig wirkender lebendiger sowjetischer Fluch …“ Auch in der Familie des einstigen Diplomaten  Gerd, wie sich zeigt.

Im Hause des „Kuhbruders“ sieht Landolf Scherzer einen Film über die Deportation der Krimtataren, „und unwillkürlich vermengen sich diese Bilder in meinem Kopf mit Aufnahmen der Transporte nach Buchenwald und Auschwitz“. Auch als sie aus der Verbannung zurückkamen, erklärt ihm der „Autobruder“, wurden sie, „ob Schlosser, Professor oder Lehrer, zuerst zur Arbeit in Steinbrüchen, Zementfabriken oder in landwirtschaftlichen Staatsbetrieben gezwungen“. Der „Geschichtsbruder“ führt ihm mit drei Tellern die Größe des tatarischen Reiches im Vergleich zum Moskauer vor Augen. Nicht nur, weil einige der Krimtataren die deutschen Faschisten unterstützten, so meint er, habe Stalin ein ganzes Volk verbannt. Vielmehr habe er verhindern wollen, „dass die Türkei bei einem späteren Friedensvertrag die Gebiete ihres früheren osmanischen Reiches, also auch die Krim, wieder beansprucht. Wie sollte sie das begründen können, wenn auf der Krim kein muslimischer Tatar mehr lebt und es dort nicht mal tatarische Friedhöfe gibt.“

Und die Tataren waren nicht die einzigen. Die Wolgadeutschen sind ebenso in Kollektivhaftung genommen wurden. Und nicht nur sie. In Armjansk der nördlichsten Stadt auf der Krim, bekommt Landolf Scherzer in einem Privatarchiv die 1937 vom Chef des NKWD Nikolai Jeschow „befohlenen Liquidierungszahlen für die einzelnen Sowjetrepubliken und autonomen Gebiete“ zu sehen. 1940 wurde Jeschow selber erschossen, um ihn als Hauptschuldigen für den „Großen Terror“ hinstellen zu können. Doch es ging weiter und setzte sich von oben nach unten fort. Manchmal wurden die Leute einfach aus Neid denunziert.

Dieses Buch lesend, durchstreift man eine Region, die ein Paradies sein könnte, und schaut in einen Abgrund. „Russen, Polen, Deutsche, Ukrainer … Nicht nur bei den Tataren blieb die Angst wie ein Geschwür im Kopf.“ Die einzelnen Menschen mit ihrem ganz eigenen Leben – was gelten sie, wenn es um Machtinteressen geht?

Landolf Scherzer: Leben im Schatten der Stürme – Erkundungen auf der Krim. Aufbau Verlag, 318 S., 40 Abb., 22 €.

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