Mehr Staat: Aber was für einer?
Irmtraud Gutschke
Was soll man vom stellvertretenden Bundesvorsitzenden der FDP auch anderes erwarten: Wolfgang Kubicki spricht aus, was auch viele Alt-Bundesbürger glauben: dass Wirtschaftswachstum am effizientesten im Zuge der Privatisierung möglich ist. Tatsächlich haben DDR-Bürger im Westen ein Erfolgsmodell gesehen: soziale Marktwirtschaft als Erfolgsmodell. Das Votum am 18. März 1990 war eines für mehr Wohlstand. Mit der D-Mark würde er kommen. Sie ahnten nicht, dass auch die Arbeitslosigkeit kam. Privatisierung im Osten hat vielerorts zu Kahlschlag geführt. Das sieht auch Wolfgang Kubicki so, aber als „Folge von zuvor 40 Jahre langkonzentriert betriebener Misswirtschaft“. Als Ostdeutsche geht mir da der Hut hoch. Stimmt: „Privatisierung heißt Innovation“. Zum Zweck von mehr Profit natürlich. Das ist tatsächlich eine Antriebskraft der kapitalistischen Wirtschaft, die eine sehr kleine Gruppe von Menschen sehr reich macht und die übrigen wenigstens nicht verhungern lässt. Die ohne Ausbeutung der Natur und anderer Völker auch so nicht funktionieren würde und die schon vor dem Beitritt der DDR zur BRD ein Profitabilitätsproblem hatte, sodass aus dem Industriekapitalismus ein Finanzkapitalismus wurde.
Wolfgang Kubicki sieht das alles. Er weiß, dass die Privatisierung kein Allheilmittel ist und dass auch manches dabei schief gehen kann. Dass Berlin 1999 den Verkauf der Wasserversorgung ins Werk setzte, geschah aus finanzieller Not. Dass die Verbraucherpreise in die Höhe schießen würden, war doch klar, schließlich sollte Rendite erwirtschaftet werden. Der Rückkauf der privaten Anteile ging dann wieder zulasten der Verbraucher. Vergleichbare Erfahrungen gab es auch bei Wohnungsbeständen. Lag das nur an mangelnder „Problemlösungskompetenz der politischen Akteure“, wie Kubicki meint oder doch eher an den klammen öffentlichen Kassen? Und warum kommen Städte, Länder, Bund in diese Zwangslage? Weil diese kleine Gruppe der Superreichen in nur sehr begrenztem Maße das Gemeinwohl im Auge hat. Was denn, würde Kubicki einwenden, sie bezahlen doch Steuern und nicht zu knapp. Und die vielfältigen Möglichkeiten der Steuervermeidung?
Klar ist das Streben nach Profit ein Anreiz unternehmerischer Aktivität, innovative Energie eingeschlossen. Klar war es ein Mangel der DDR-Wirtschaft, dass es diesbezüglich zu wenig Eigenständigkeit und Anreiz gab. Eine hierarchische Kommandowirtschaft, um es grob auszudrücken, hat es schwer, weltmarktfähig zu werden und zu bleiben. Und Unternehmen im Staatseigentum sind auch nicht per se sozialer. IN welcher Eigentumsform auch immer gelten die Gesetze kapitalistischen Wirtschaftens.
„Sozialisierung der Kosten, Privatisierung der Gewinne“ – da legt Tim Engartner, Professor für Sozialwissenschaften, einen Finger auf die Wunde. Der Staat finanziert die Bildung, das Gesundheitswesen und große Teile der öffentlichen Infrastruktur. Er gibt den Unternehmen auch die Möglichkeit, problemlos zu entlassen. Er rettet Banken, spült durch Waffenkäufe viel Geld in private Kassen, federt hohe Energiepreise ab, die er selbst mit verursacht hat, und was noch alle. Auf die sich verschärfende Inflation muss er reagieren, um seinen sozialen Anspruch wenigstens in Teilen zu bewahren. „Der Staat hat mit dem größten Hilfspaket in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gigantische Schulden aufgenommen. um die (kurzfristigen) Krisenauswirkungen abzufedern. Allein der Umfang der im Mai 2020 beschlossenen haushaltswirksamen Leistungen betrug 353 Milliarden Euro. Die Garantien beliefen sich auf 819,7 Milliarden Euro“, schreibt Engartner.
Schon um solcher Fakten willen ist das Buch die Lektüre wert. Was man auf Seite 44 über den Umfang der Privatisierungen – Post, Stadtwerke, Wohnungs- und Gesundheitswesen, sogar Justiz erfährt, lässt einem die Haare zu Berge stehen. Viele Projekte können öffentliche Kassen nicht mehr stemmen. Als Rettung erscheinen „öffentlich-private Partnerschaften“, die nicht selten zu ausufernden Kosten führten. Als Beispiel führt Engartner die Hamburger Elbphilharmonie an. Dabei ist es gelungen, Privatisierungen als „alternativlos“ darzustellen. In einer repräsentativen Demokratie hat die Bevölkerung auch gar nicht die Möglichkeit, Einspruch zu erheben, zumal viele Zusammenhänge verschleiert sind. Kommunen, Länder und Bund können durch Privatisierungen Einmalgewinne erzielen, und – so sei hinzugefügt – innerhalb einer Legislaturperiode denken politisch Verantwortliche auch eher kurzfristig.
Zu Recht betont Engartner auch die Rolle des Lobbyismus. „Allein die Ministerien für Verteidigung, Inneres und Verkehr verausgabten 2019 knapp 418 Millionen Euro für externe Beraterinnen und Berater … Zahlreiche Politikerinnen und Politiker gehen schon als Mandatsträgerinnen und -träger zeitintensiven ‚Nebentätigkeiten in der Wirtschaft nach oder werden spätestens nach ihrem Mandat durch die lobbyistische Drehtür auf lukrative Posten in der Privatwirtschaft befördert.“ Dazu gibt es im Buch viele Beispiele.
Ist das nicht kriminell? Manches vielleicht, aber man kann es so pauschal nicht sagen. Sonst müsste ja auch das Profitmachen einer Minderheit zu Lasten der Mehrheit kriminell sein. Wie soll die Rückzahlung der Schulden finanziert werden? Durch Kürzungen bei der Daseinsvorsorge? Durch Steuererhöhungen zu Lasten der Mittelschicht? Genügt es, das beschönigenden Mäntelchen von der „Vermarktlichung“ wegzuziehen? Dadurch kommt der Staat aber immer noch nicht zu mehr Einnahmen. Und wie gibt er diese aus?
„In keinem EU-Staat ist die Vermögensungleichheit größer als in Deutschland“, heißt es im Buch. Pauschal gesagt, könnte mehr Staat dem Gemeinwohl dienlich sein. Aber was für ein Staat müsste das sein? Eine grundlegende „Wende“ wäre nötig …
Wolfgang Kubicki/ Tim Engartner: Privatisierung. Herausgegeben von Lea Maria Eßer. Westend Verlag, 71 S., br., 12 €.