Wilder Tanz zwischen Himmel und Erde!
Atmen, fliegen, die Dschinn und das Riesenwindrad eines Leipziger Rentners: „Eine kleine Geschichte des Windes“ von Kerstin Decker
Irmtraud Gutschke
Im Frühjahr 1783 sitzt Joseph Michel Montgolfier am Kamin, und sein Blick fällt auf den seidenen Unterrock, den seine Frau zum Trockenen aufgehängt hat. Wie er sich bauscht in der heißen Luft, überlegt er, ob er es nach seinen missglückten Flugversuch mit einem Papierfallschirm noch einmal versuchen sollte. „Im Kamin brannten feuchtes Stroh und alte Wolle. Es qualmte ungemein.“ Rauch erzeugen unter einem Seidenballon? Die „ersten Flugpassagiere der Menschheit“ würden ein Hahn, ein Schaf und eine Ente sein …
Wie Kerstin Decker erzählt, kann man es vor sich sehen. Viele, viele Geschichten stecken im Buch, das eben nicht die geradlinige Abfolge einer „Geschichte“ hat, wie der Titel vermuten lassen könnte. Schließlich handelt es vom Wind. „So schnell, wie er umschlägt, wechseln auch hier die Perspektiven. Dieses Buch segelt mit allen Winden.“ Die haben viele Namen: „Scirocco“, mit Thomas Manns „Tod in Venedig“ verbunden, Bora, Föhn, Mistral … Wie kommt Sahara-Sand nach Basel? Da sind wissenschaftliche Erklärungen unumgänglich. Viel früher indes war alles „natürlich und übernatürlich zugleich“.
Luftwesen: „Wer einen plötzlichen Hauch im Zimmer spürt bei geschlossenen Fenstern, darf vermuten, dass er nicht allein ist.“ Ein Engel? Ein Dschinn? Was ich nicht wusste: „Am 8. November 392 wurden in Rom alle heidnischen Kulte unter Androhung der Todesstrafe verboten.“ Da sei ein emotionales Band zwischen Mensch und Natur zerrissen, das nicht zuletzt „die Elementargeister“ gestiftet hatten. Alte Kulturen wären nie auf die Idee gekommen, „sich dem sie Umgebenden, der Natur, überlegen zu fühlen“. Alles ist beseelt und damit beeinflussbar. Und unsere Seele reist nachts mit dem Wind.
Von der Dichterin Else Lasker-Schüler wird erzählt, wie sie einem scheinbar toten Schmetterling Leben einhauchen wollte, und es gelangt ihr sogar. Rund 20 000 Mal am Tag atmen wir. Mehr oder weniger 500 Millionen Mal im Laufe eines Lebens.
„Der Mensch ist das Tier, das nicht wegschauen kann“ und „das um seine Sterblichkeit weiß“. „Der Wind als Stifter der menschlichen Kultur“? Lebendige Szenen wechseln mit essayistischen Passagen. Weit ausgreifend: Schließlich wird alles vom Wind berührt. Was für ein Kunststück allein, die vielen Einzelheiten zu sammeln und so zu komponieren, dass uns auf höchst unterhaltsame Weise Wissenswertes geschenkt wird.
Um 1200 v.u.Z. erschienen die ersten Segel über dem Mittelmeer, aber Schiffsdarstellungen sind viel älter. Magellan, Kolumbus, Vespucci – die Zeit der großen Entdeckungen und des Sklavenhandels. Sturm war gefährlich, aber auch die Flaute. Doch schon viel früher hat es Kontakte über die Ozeane gegeben, wie Thor Heyerdahl mit seinem Floß „Kon Tiki“ nachweisen konnte.
Was für ein Sprung von diesem Naturforscher zu Rainer Maria Rilke, den Marie von Thurn und Taxis, die Herrin auf Schloss Duino, „Doktor Seraphicus“ nannte. Bekommen wir es jetzt mit der Angeologie, der Engelskunde, zu tun? War Rilke nicht eher einem Cherubim vergleichbar? Und wie fliegen Engel überhaupt? „Nur wenn sie die Flügel breiten, sind sie die Wecker eines Winds“, so Rilke. Vom Todesengel zur Pest in Europa, zum Miasma, dem „kranken Wind“. Ja, überhaupt: was tust du, wenn du dich fühlst wie ein Blatt im Wind, der dir nicht günstig ist? Rat suchen bei den Stoikern der Antike: Kerstin Decker, von Haus aus Philosophin, weiß dazu viel und kann weder auf Ernst Bloch noch auf den „Wind of Change“ verzichten, schon gar nicht auf das „Kommunistische Manifest“.
Welche Fülle an Fakten und Gedanken! Aus den 250 Seiten hätte gut und gern das Vierfache werde können. Kam vom Verlag die Bitte, den Text zu komprimieren? Man kann ja die schnellen Bewegungen, die assoziativen Sprünge auch genießen. Wanderfalken in Manhattan, Windbestäubung, Bodenerosion, Stürme und die Sehnsucht nach Stille. Da erinnert uns schon zu Beginn des Buches das Klappern einer „Westernmill“ an Sergio Leones berühmten Film „Spiel mir das Lied vom Tod“. Die funktionierte nicht mit Holzflügeln, sondern mit solchen aus Blech. Energie aus Wind gewinnen: Wie naheliegend! Und am Ende steht HBX 300, von einem Leipziger Rentner erdacht. „Sieht das nicht aus wie ein größenwahnsinnig gewordenes Fotostativ?“ Mit Flügeln 360 Meter hoch, könnte es Strom für zwei Cent pro Kilowattstunde liefern. Kerstin Decker schrieb im „Freitag“ darüber. Höhenwind-Perspektiven: Windräder auf Berliner Hochhausdächern würden 25 Prozent des Eigenbedarfs decken.
Historische Rückblicke und Zukunftsvisionen, Faszinierendes aus Naturwissenschaft und Technik, Ökonomie und Politik, inspirierende Ausflüge in Kunst- und Kulturgeschichte: Wie ein Tanz zwischen Himmel und Erde ist dieses Buch.
Kerstin Decker: Eine kleine Geschichte des Windes. Berlin Verlag, 254 S., geb., 22 €.