Wahrlich ein Wunderwerk
Kerstin Decker lässt eine Ratte „Die Geschichte des Menschen“ erzählen
Von Irmtraud Gutschke
Was wir anrichten, indem wir uns als Krone der Schöpfung betrachten – jedes Tier würde uns Menschen Vorwürfe machen. Eine Ratte zumal, dieses kluge, dabei verachtete und gejagte Wesen, das irgendwie nicht auszurotten ist. Eine sprechende Ratte zu erfinden dürfte nicht schwer sein. Aber sie gleich die ganze „Geschichte des Menschen“ erzählen zu lassen – auf welches Wagnis hat sich Kerstin Decker da eingelassen, auf welch riesenhafte Arbeit! Die Ratte erscheint als Universalgelehrte. Da denkt man an die Autorin als Universalgenie.
Dem Einwand (der von ihr selber kommen könnte), dass solches in unserer Zeit kaum mehr möglich sei, weil das Wissen in den einzelnen Fachgebieten seit dem 19. Jahrhundert so gewaltig zunahm, steht zugleich ein Leserwunsch entgegen: dieses Zersplitterte, Fragmentarische irgendwie zu ordnen. Sehnsucht nach Ganzheit – der Welt und der eigenen Person. Aber dieses Buch ist kein simples Welterklärungsmodell. Es ist eine ERZÄHLUNG, die aus einer Unmenge von Einzelheiten besteht, sich dabei aber immer wieder „rundet“, eine Erzählung, die an jedem Punkt mitreißend, stellenweise auch herrlich ironisch ist, die nie ihre Spannung verliert, obwohl da so viel Wissen ausgebreitet wird und leicht fasslich erklärt werden muss. Wie lange mag Kerstin Decker daran gearbeitet haben. Wie viele Bücher hat sie sich zu Gemüte geführt – der Anmerkungsapparat lässt staunen –, und doch ist der Text von einer Leichtigkeit, wie man sie eigentlich nur durch Abstand gewinnt.
„Ihr seid der absolute Spätling unter den Geschöpfen“, sagt die Ratte, „und alle Tiere hoffen, ihr verschwändet bald wieder“. Sie liest uns die Leviten und ist doch letztlich solidarisch, worin Ratten den Menschen sogar überlegen sind, wie es heißt. „Wir sind beide Kosmopoliten, Opportunisten und Allesfresser, darin liegt unser beispielloser Erfolg. Ich erkläre es später.“ Weil die weise Ratte sich nicht erst Kenntnisse erarbeitet, sondern von Anfang an über alles verfügt (die 8000 Bücher, die Ratten in der Stuttgarter Universitätsbibliothek 2018 „geschreddert, gefressen und befleckt haben“, sind nur kurz angemerkt), ist sie beneidenswert souverän. Sie kann jederzeit zwischen verschiedenen Fachgebieten springen: von der Biologie des Menschen und der Ratte zu ihrer gemeinsamen Geschichte, von der Medizin zu Problemen von Gegenwart und Zukunft.
Bekanntes und Unbekanntes: Vom Verhältnis zwischen Neandertalern und Homo sapiens hatte ich erst kürzlich gelesen, darüber, dass Jäger und Sammler größere Hirne hatten als unsereins und die Fron der Arbeit mit dem Ackerbau in die Welt kam. Aber dass Ratten Tbc-Erreger riechen können, hätte ich nie gedacht. Die Reise von Christoph Kolumbus aus Sicht einer Schiffsratte ist wie ein Abenteuerroman für sich. Und das Kapitel über Laborratten changiert zwischen Utopie und Dystopie, wobei letztere überwiegt, denn an „Tier-Maschine-Hybriden“ und „Mensch-Tier-Chimären“ wird längst geforscht. Ein Lichtblick ist da „der schönste Rattenversuch“.
Unser Schlaf und das Klosett, die Pest, die Feuerameisen, der Phosphatdünger, das Phantom der Oper, der Welterschöpfungstag, Knock-Out-Maus und Affenliebe, Kernwaffentests auf dem Bikini-Atoll, Chinas Sozialkreditsystem und die Neue Seidenstraße – ungemein viele Einzelheiten bilden ein Mosaik. Verweise auf Philosophie und Kunst sind eingeflochten, die Autorin ist ja promovierte Philosophin und hat mehrere kulturhistorische Bücher verfasst. Wie nebenbei mischt sich die Ratte lebensklug überlegen auch in so manche aktuelle Debatte ein – zu Xenophobie und Migration, Gender und Globalisierung, Digitalisierung und Klimaerwärmung, zur Kluft zwischen Arm und Reich. Lässt sich die Menschheit vorm Aussterben bewahren? Auch dazu kann die Ratte etwas sagen.
Wahrlich ein Wunderwerk ist dieses Buch.
Kerstin Decker: Die Geschichte des Menschen von einer Ratte erzählt. Berlin Verlag. 431 S., geb., 24 €.