Was so nicht bleiben darf
Von Irmtraud Gutschke
Dass ein Riss dieses Land durchzieht, jeder kann es spüren. Die einen, auf der gemütlicheren Seite, wollen ihn nicht so gerne wahrhaben, einfach, weil sie ihre Privilegien nicht verlieren wollen. Die anderen sind getrennt in diejenigen, die noch auf wirtschaftlichen und kulturellen Aufstieg hoffen oder die schon längst resigniert haben. Immer größer wird die Zahl derjenigen, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind, um zu leben. Manche von ihnen haben es inzwischen aufgegeben, nach einer Erwerbstätigkeit Ausschnau zu halten.
Diese Leute sind Julia Friedrichs Thema nicht. Sie schaut sich bei Menschen um, die mehr oder weniger aufreibend ihre Arbeitskraft verkaufen, nur eben zu einem allzu geringen Preis. Selbst wer nicht mit Hartz IV „aufstocken“ muss, vermag sich keine Reserven zu schaffen und lebt in ständiger Unsicherheit. Die Hälfte der unter 45-Jährigen fürchtet, im Alter arm zu sein.
Julia Friedrichs, 1979 im westlichen Münsterland geboren, kannte noch den Traum von wirtschaftlichem Aufstieg für alle, obwohl er damals schon fast vorbei war. Was ist geschehen, dass trotz harter Arbeit für viele ein Leben in sozialer Sicherheit nicht möglich ist?. „Sait steigt morgens um 6.30 Uhr runter in die U-Bahn und wischt den Dreck der Nacht weg. Alexandra drückt mittags ihrer jüngeren Tochter noch einen Kuss auf die Wag, um dann bis abends Klavierschüler zu unterrichten. Christian isst mittags am Schreibtisch im Büro, um es irgendwie pünktlich in den Feierabend zu schaffen. Sie alle haben schon vor der Pandemie von Rissen erzählt. Sie alle haben gespürt, wie die Muskelstränge wieder und wieder überdehnten.“
Denn zur ungenügenden Entlohnung kommen die sich verschlechternden Bedingungen der Arbeit. Einsparung von Personalkosten lässt Gewinne steigen (oder hält ein Unternehmen in der Konkurrenz oft nur halbwegs rentabel), führt aber zu einer Verdichtung von Arbeit, dass acht Stunden erschöpfend sind. Wer dann die Arbeit reduziert – auch um der Kinderbetreuung willen – bekommt noch weniger Geld. Ein Teufelskreis.
Auch wenn man befürchten muss, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Folge der Pandemie noch größer wird, politische Lösungen sind unumgänglich, auch im Sinne des sozialen Friedens in diesem Land.
„Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können“ – eine notwendiger Beitrag zur Diskussion in dieser Zeit. Aber warum der Titel „Working Class“? Warum nicht „Arbeiterklasse“? Ist dieses Wort der Autorin (immerhin tätig für ARD, ZDF und „Zeit“) zu heikel gewesen?
Julia Friedrichs: Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. Berlin Verlag. 317 S., geb., 22 €.