Alles ist absurd geworden
Jürgen-Michael Reimer gelang eine komplexe Analyse des Neoliberalismus
Irmtraud Gutschke
Es ist eine grundsätzliche und dabei weitgreifende Kapitalismus-Analyse, die der 1940 geborene Jürgen-Michael Reimer vorlegt. Wenn man in den Arbeiten von Marx und Engels beim Lesen auch das Kernstück sieht, so wird man zugleich über die vieler anderer Gesellschaftsanalytiker unterrichtet, die darauf aufgebaut oder sich davon abgestoßen haben. Vom Kapitalismus der vorindustriellen Zeit und dem Industriekapitalismus, den wir in manchen unseren Vorstellungen noch anhängen, wird der Bogen geschlagen zum sogenannten Neoliberalismus, dessen Siegeszug von Anfang an „auch ein politisches Projekt“ gewesen ist. Da wird an die „Mont Pèlerin Society“ um Friedrich August Hayek erinnert und an internationale Institutionen wie IWF, Weltbank oder WTO, die – in angelsächsischem Interesse, so sei hinzugefügt – „oberhalb der Ebene der Nationalstaaten angesiedelt und politisch nicht rechenschaftspflichtig“, die neoliberale Doktrin in anderen Ländern durchsetzen halfen. Und sei es durch einen Staatsstreich wie 1973 in Chile, der den Diktator Pinochet an die Macht brachte.
Überaus wichtig für das Verständnis der Problematik ist der „Washington Consensus“ von 1989, der (nicht zufällig in dem Jahr als das sowjetische Imperium zusammenbrach) die wichtigsten Leitlinien des Neoliberalismus zusammenfasste, die dann nach dem Ende der sozialistischen Experimente zur Anwendung kamen. Rücksichtslose Privatisierung in den Ländern des Ostens sollte womöglich einer Entwicklung der Märkte dienen, führte aber zu massenweiser Verarmung und Entwicklung einer Oligarchie, die kaum mehr im Zaum zu halten ist. Der „Antikollektivismus“, im „Zeitalter des Wettkampf der Systeme“ gegen die Länder des Ostblocks in Stellung gebracht, schien nun gesiegt zu haben. Vor dem Hintergrund wachsender Ungleichheit und wirtschaftlicher Unsicherheit der Massen musste ohnehin jeder sehen, wo er blieb. Ausverkauf des Staates, Übergang vom Industriekapitalismus zum Finanzkapitalismus, der mit dem Ende des Abkommens von „Bretton Woods“ in ein globales Casino führte, in dem sich mit ungedeckten Währungssystemen Profite machen ließen. Gleichzeitig stiegen die Staatsschulden immens an – in der Bundesrepublik zwischen 2008 und 2020 um
1 577 Billionen Euro. Wieviel mag durch Corona und den Ukrainekrieg noch hinzugekommen sein. „Wachstum ist im Kapitalismus nur unter der Bedingung zunehmender öffentlicher und privater Verschuldung möglich“, schreibt Jürgen-Michael Reimer. Auf diese Weise hätten die Staaten dem Kapitalismus Zeit erkauft. „Es bleibt die Frage: Wie lange können wir uns den Kapitalismus noch leisten?“
Allein schon wegen der Fakten zur skandalösen Ungleichheit in der Welt, sollte man sich das Buch ins Regal stellen. In der BRD besitzen die Reichsten (1% der Bevölkerung) 35 Prozent des Vermögens, die oberen 10% etwa 67 Prozent und die unteren 50% nur 1,3 Prozent. Die Ungerechtigkeit durchdringt die ganze Gesellschaft, ob Bildung- oder Gesundheitswesen, wo eine wachsende Landnahme des Kapitals festzustellen ist. Internationale Investoren haben monopolartige Strukturen entstehen lassen. „Als Profitziele werden 20% des Umsatzes angestrebt.“
„Ein ideologiekritischer Essay“ wird mit dem Untertitel versprochen. Der Autor war sich bewusst, mit jeder Zeile etwas klar- und richtigzustellen zu müssen, was die gesellschaftlichen Verhältnisse betrifft, unter denen wir leben. Trotz aller ideologischer Beschwichtigungen, das Gefühl breitet sich aus, in einer absurden Gesellschaft zu leben. Den weit verbreiteten Ressentiments gibt dieses Buch analytische Argumente.
Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus. Ein ideologiekritischer Essay. PapyRossa Verlag, 123 S., 16 €.