Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

James C. Scott: „Die Mühlen der Zivilisation“

Preis des
Fortschritts


Von Irmtraud Gutschke

Der Buchtitel lässt an Friedrich Engels denken. Der taucht auf Seite 24 sogar einmal auf – nur dem Namen nach. Seine Untersuchung „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ scheint Prof. James C. Scott jedoch nicht wirklich bekannt zu sein, denn er reiht ihn unter Autoren ein, die einem mechanischen Fortschrittsbegriff „vom Jagen und Sammeln, zum Nomadentum und zur Landwirtschaft“ huldigten. Aber für Engels war es ein dialektischer. Er sah sehr wohl, was in den „Mühlen der Zivilisation“ auch zerbrochen wurde, ist beeindruckt von „der persönlichen Würde, Geradheit, Charakterstärke und Tapferkeit“ der Irokesen und verwendet den Begriff „Barbaren“ trotzig im positiven Sinne. So auch Scott, der das „goldene Zeitalter der Barbaren“ indes ausführlicher analysiert ebenso wie jene Vorgänge, die zur Bildung früher Staaten führten. Insofern ist die Lektüre dieses Buches ein Gewinn, weil sie einen weiten Blick auf Menschheitsgeschichte eröffnet. Gegen die verengte Sicht, die mitunter sogar dazu führt, von den eigenen (erwünschten) Daseinsbedingungen im hierzulande herrschenden Staatswesen auszugehen, wenn das Leben anderer Völker beurteilt wird.

Solch einen  Blick von außen gab es indes schon immer: „Die Geschichte der Bauern wird von den Städtern geschrieben“, heißt es im Buch. „Die Geschichte der Nomaden wird von den Sesshaften geschrieben. Die Geschichte der Jäger und Sammler wird von den Bauern geschrieben. Die Geschichte der nichtstaatlichen Völker wird von den Hofschreibern geschrieben. All das ist in den Archiven unter dem Stichwort ‚Geschichte der Barbaren‘ zu finden.“ James C. Scott aber will derlei Rückprojektionen hinterfragen und repressive Sozialordnungen grundsätzlich infrage stellen. Sesshaftigkeit, betont er, gab es auch in nichtstaatlichen Gemeinschaften. „Man sollte niemals Zivilisationen mit den Staaten verwechseln, die sie typischerweise überdauern, und wir sollten auch nicht unbedacht größere Einheiten der politischen Ordnung kleinerer vorziehen.“ Als Direktor des agrarwissenschaftlichen Programms der Yale University weiß er, was Domestikation bedeutet – für Pflanzen und Tiere, aber auch für Menschen. Viele frühe Staatsgebilde seien allein schon durch Epidemien zerfallen und wären überhaupt erst entstanden, damit sich einige weniger auf Kosten der Bevölkerungsmehrheit bereichern konnten, die, wäre sie nicht unter Abgaben oder gar Sklaverei gezwungen gewesen, ein viel besseres Leben hätte führen können.

Wäre, hätte. Das Buch ist gut geschrieben, steckt voller interessanter Einzelheiten und verrät dabei eine Sehnsucht, die auf heutiger ökonomischer Basis wohl leichter zu erfüllen wäre als je: in angemessenem Wohlstand zu leben und frei zu sein von jeglicher Repression. Frei zu sein auch für Muße und Schöpfertum. Aber die Steigerung der Produktivität ist in der Geschichte eben zum großen Teil den herrschenden Klassen zugutegekommen. Der zivilisatorische Fortschritt hatte für die Unterdrückten einen hohen Preis. Wobei auch diese Utopie von Marx und Engels schon formuliert worden ist.

James C. Scott: Die Mühlen der Zivilisation. Eine Tiefengeschichte der frühesten Staaten. Aus dem Amerikanischen von Horst Brühmann. Suhrkamp, 329 S., br., 22 €.

Weiter Beitrag

Zurück Beitrag

Antworten

 

© 2024 Literatursalon

Login