Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Ivan Krastev, Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch

In was für einer Welt werden wir aufwachen?

„Das Licht, das erlosch“ – eine scharfsinnige Analyse von Ivan Krastev und Stephen Holmes

Irmtraud Gutschke

„Eine Abrechnung“ heißt das Buch im Untertitel. Die gilt den westlichen Illusionen, dass es nach dem Ende des Kalten Krieges alles bestens laufen würde, so dass man gar mit Francis Fukuyama ein „Ende der Geschichte“ einläuten könnte. Weltweit bekommen populistische Kräfte Zulauf. Warum gerade auch in osteuropäischen Ländern, die doch eigentlich freiheitliche Werte so hoch geschätzt hatten?

Ivan Krastev, in Bulgarien geboren, ist Leiter des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien, wo er den Schwerpunkt „Die Zukunft der Demokratie“ leitet. Stephen Holmes ist Professor für Rechtswissenschaften in New York und hat zur Geschichte des Liberalismus geforscht. „Ein Schlüsselwerk zum Verständnis unserer Gegenwart“: Die Ankündigung des Ullstein Verlags ist nicht übertrieben. Das Buch erschien 2019, also vor dem Ukraine-Krieg, weist allerdings mit hellsichtigen Analysen schon darauf hin. Seine Stärken hat es im Bereich der Sozialpsychologie. Gerade Ivan Krastev weiß, wie sich Menschen fühlen, die mit großen Hoffnungen in die EU aufgebrochen sind, dann aber enttäuscht wurden durch die Art, wie diese Transformation vonstattenging.

„Das Unbehagen in der Nachahmung“: Mit dieser Begrifflichkeit lassen sich politisch ideologische Fettnäpfchen umgehen. Dass es als demütigendes Eingeständnis „eigenen Versagens“ empfunden werden kann, „unter westlicher Aufsicht ein westliches Modell zu adaptieren“, kann jeder doch irgendwie nachvollziehen. In Frage gestellt wird freilich vorrangig das Prozedere, die Form und nicht der Inhalt. Gar nicht zur Debatte steht, was viele auch verloren haben. Der Systemwechsel, den viele ja durchaus wollten, erwies sich als schmerzhafter als gedacht. Aber diese „politische und moralische Schocktherapie“ setzte nicht lediglich „die ererbte Identität aufs Spiel“. Die „Verbitterung“ hat auch schlichtweg ökonomische Gründe. Die osteuropäischen Länder wurden vom Kapitalismus nicht etwa mittels eines „Marshallplans“ gekauft, was tatsächlich als Sieg einer überlegenen Ordnung gefeiert worden wäre, sondern sie wurden der Vernutzung preisgegeben durch Auswanderung und Billiglohn. So wie es auch anderswo in der Welt üblich ist, dass die reichen Länder von den armen profitieren. Zudem vollzog sich innerhalb dieser Länder eine soziale Spaltung ungeahnten Ausmaßes. Man hatte anderes erwartet, und das war kränkend. Der aufkommende Nationalismus konnte die Kluft nicht kitten, aber zumindest den Groll auffangen, wenn die EU auch noch die Aufnahme von Migranten verlangte.

Vielleicht war es schlau von Ivan Krastev, nicht zu einer fundamentalen Systemkritik auszuholen, die für den Moment erst einmal überhaupt nichts bringt. Was er vorrangig in die Öffentlichkeit bringen will, ist die unbequeme Einsicht, dass sich die liberale (von den USA dominierte) Weltordnung im Niedergang befindet. „Das Licht, das erlosch“: Wer sich in diesem wohlgefühlt hat, muss das in der Tat bedauern.

Unverständnis, gar Zorn „gegen den postnationalen Individualismus und Kosmopolitismus“ – das betrifft nicht nur die osteuropäischen EU- und NATO-Mitglieder, sondern ebenso auch Russland. Dort kommt aber noch die demütigende Erfahrung hinzu, ein Imperium aufgegeben zu haben und westlichen Versprechungen auf den Leim gegangen zu sein. Derlei Vertrauensseligkeit sollte sich nie mehr wiederholen.  Es verwundert nicht, dass die beiden Autoren des Buches Putin ganz und gar nicht mögen, doch sind sie sich einig über die dramatische Wahl, vor der er sich gestellt fühlt: „Entweder wird Russland der Globalisierung  unter amerikanischer Führung ein Ende bereiten oder die Globalisierung unter amerikanischer Führung wird Russland ein Ende bereiten.“

Auf eine plausible Weise haben sie es vorausgesehen: „Putin träumt nicht davon, Warschau zu erobern oder Riga wieder zu besetzen. Im Gegenteil, seine Politik ist … Ausdruck eines aggressiven Isolationismus, ein Versuch, den eigenen Kulturraum zu konsolidieren.“ Spiegeln – dieser Begriff findet sich tatsächlich immer wieder in russischen Verlautbarungen: Man will „spiegelbildlich“ reagieren. Gleiches mit Gleichem vergelten? Wie zornig muss man sein, um diesen Weg einzuschlagen! Krastev hat wohl recht: Es ist kein Zeichen von Stärke, zumal sich dem Westen gegenüber „eine wachsende, strategisch witzlose  Boshaftigkeit auf russischer Seite“ eingeschlichen hat.  „Wenn den „russischen Führern“ indes vorgeworfen wird, die Weltpolitik als eine „riesige Verschwörung“ darzustellen, zeigt das doch nur, dass sie nicht so naiv sind wie viele im Westen.

Den USA gilt das letzte Kapitel, genauer gesagt der Frage, wie Trump so viele Anhänger gewinnen konnte. Stimmig ist sicher die Bezeichnung seiner politischen Ziele: „die Wiedereinsetzung der USA als einen egoistischen Staat  unter anderen egoistischen Staaten“. Und richtig ist die Feststellung, dass „der amerikanische Liberalismus … das genaue Gegenteil des sowjetischen Totalitarismus“ sein wollte. „Ohne einen furchteinflößenden kommunistischen Feind“ wurde auch „die Sorge um das Wohlergehen der einfachen Arbeiter“ obsolet, die sich in ihrer Verbitterung dann Trump angeschlossen haben.

In was für einer Welt werden wir aufwachen?

Unter der Überschrift „Ende einer Ära“ wird der Aufstieg Chinas betrachtet, das auf seinen „rechtmäßigen Platz als eine globale Supermacht drängt“. Verbreiteten Sorgen, dass China dem Westen sein eigenes Staatsmodell überhelfen würde, treten die Autoren entgegen. Andersherum aber muss es politisch naiv, ja geradezu lächerlich erscheinen, das Reich der Mitte bezüglich liberal-demokratischer Normen und Institutionen belehren zu wollen.

Mit dem Belehren ist es nämlich vorbei. „Wir können die weltweit vorherrschende liberale Ordnung, die wir verloren haben, endlos betrauern oder wir können unsere Rückkehr in eine Welt ständig miteinander rangelnder politischer Alternativen feiern und erkennen, dass ein geläuterter Liberalismus, wenn er sich von seinem unrealistischen und selbstzerstörerischen Streben nach weltumspannender Hegemonie erholt hat, noch immer eine politische Idee ist, die dem 21. Jahrhundert am ehesten entspricht.“

So richtig wie tröstlich. Holen Sie sich dieses Buch, auch wenn es keine Neuerscheinung mehr ist.

Ivan Krastev/ Stephen Holmes: Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung. Ullstein Verlag, 366 S., geb., 26 €..  

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