„Ruhe wirst du niemals finden“
Ingeborg Gleichauf fühlt sich auf beeindruckende Weise in Brigitte Reimann ein
Irmtraud Gutschke
Leseerlebnisse, die ergründet sein wollten: Vom Briefwechsel mit Christa Wolf und dem unvollendeten Roman „Franziska Linkerhand“ arbeitete sich Ingeborg Gleichauf weiter ins Werk von Brigitte Reimann vor. „Eine Art Reimann Lesehunger stellte sich ein … Ich konnte nicht mehr aufhören und musste einfach alles lesen, was es von Brigitte Reimann an Veröffentlichungen gibt.“
Ingeborg Gleichauf ist Philosophin, Schriftstellerin, Lyrikerin, wurde 1953 im Schwarzwald geboren und lebt in Freiburg. Sie hat Bücher unter anderem über Hannah Arendt, Simone de Beauvoir, Max Frisch, Ingeborg Bachmann, Gudrun Ensslin, Martha Nussbaum geschrieben und in Sammelbänden Philosophinnen, Dichterinnen, Dramatikerinnen vorgestellt. Den sieben Kapiteln des vorliegenden Buches stellt sie Zitate aus der Weltliteratur voran – auf die Weite ihrer Gedankengänge verweisend und unterstreichend, dass Brigitte Reimann für sie zur Weltliteratur gehört.
Das Buch lebt vom Erlebnis der Lektüre und dabei nicht minder vom Wunsch, eine andere Frau in ihrer Tiefe zu verstehen. Ein weiblicher Ansatz, den ich ebenso bei mir beobachte. Einfühlen will ich mich auch im Sinne des eigenen Lebenswegs. Weil literarische Werke ja nach dem Zwiegespräch suchen. Dass ich bezüglich Carsten Gansels Biographie „Ich bin so gierig nach Leben“ immer noch voll des Lobes bin, hindert mich nicht, diesen Essay von Ingeborg Gleichauf in vollen Zügen zu genießen, der eben auch von der Freude lebt, dieses Werk für sich entdeckt zu haben. In Freiburg, wo aus der DDR-Literatur noch so vieles zu entdecken ist. Dass die ihre Gedichte auch einer Bäuerin aus dem Schwarzwald gefallen könnten, wie oft habe ich das in meinen Veranstaltungen über Eva Strittmatter gesagt.
Zehn Kapitel: beginnend mit Brigitte Reimanns Leseerlebnissen, ihrer frühe Prosa, ihren Freundschaften. Als „Briefe- und Tagebuchschreiberin“ wird sie vorgestellt, als „Menschenbeobachterin“ und „Figurenzeichnerin“ als „Männersammlerin“ und in ihren „Körperwelten“. Es geht um das „Schreiben in der DDR“, um „Franziska Linkerhand“ und in „Erstaunliche Ausblicke“ um Bezüge zu anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern wie Clemens Meyer, Max Frisch und Carson McCullers. Dazu liest sich die Autorin durch ihr Werk, besonders ihre Briefe und Tagebücher. So lebt das Buch besonders auch von Zitaten aus Reimanns Selbstzeugnissen, von der schonungslosen Offenheit, mit der sie über sich selber spricht.
Schon mit vierzehn war sie überzeugt, Schriftstellerin werden zu wollen, was mit ihrer Erkrankung an Kinderlähmung zu tun hatte. „Als hätten sich ihre körperlichen Schmerzen verbunden mit dem Wunsch zu schreiben.“ Alles wird sie fortan diesem Wunsch unterordnen. Eine, die sich ihre Arbeit hineinkniet – zuletzt ihrem Leiden an Krebs zum Trotz. Wie groß dieses Leiden war – sie sei „tranchiert“ betont sie im Januar 1969 – erfuhr man im Einzelnen so noch nicht. „Im Frühjahr 1971 sind Operationen an den Nieren fällig, eine Rippe wird entfernt, und während der Narkose setzt die Atmung aus und sie hängt zwei Tage lang an Schläuchen, kriegt fast keine Luft und die Scherzen sind ebenfalls kaum zu ertragen.“ Wie sie sich bei all dem nicht der Krankheit ergab, weil sie „Franziska Linkerhand“ beenden wollte, gehört zu der Faszination, die diese Schriftstellerin bis heute hat.
Ingeborg Gleichauf: Als habe ich zwei Leben – Brigitte Reimann. Mitteldeutscher Verlag, 165 S., br., 18 €.