Mehr Staat oder doch lieber nicht?
Von Irmtraud Gutschke
Gerade soll das Infektionsschutz-Gesetz geändert werden. Aufwendige Bund-Länder-Beratungen werden obsolet, wenn der Gesundheitsminister „durchregieren“ kann. Das hat er sich schon lange gewünscht, und Teile der Bevölkerung fänden es gut, wenn die Länder an einem Strang ziehen müssten und Exekutive mehr Tatkraft zeigen könnte, statt sich alles durch das Parlament zerreden zu lassen. Aber das ist die Verführungskraft des Autoritären – man muss es sich klarmachen. Was ein besseres Funktionieren verspricht in Krisenzeiten birgt unübersehbare Gefahren. Der Parlamentarismus, wie es ihn in der Bundesrepublik gibt, ist zwar keine Demokratie im idealen Sinne und doch immr wieder, gerade heute, zu verteidigen.
Unter dem Titel „Not und Gebot“ geht Heribert Prantl, jahrelang Leiter des Ressorts Innenpolitik und Mitglied der Chefredaktion in der Süddeutschen Zeitung, der Frage nach, inwieweit „Grundrechte in Quarantäne“ bedroht sind. Die massenhaften Eingriffe ins persönliche Leben kann er auch unter den Bedingungen der Pandemie nicht rechtfertigen. „Vor dem Lockdown des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens im Frühjahr (2020 I.G.) kam der politische Selbst-Lockdown des Parlaments.“ Auf diese Weise sei „eine ungesetzliche Parallelrechtsordnung entstanden“. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist für den Autor „kein Wischi-Waschi-Satz“.
„Die Grundrechte sind nicht eine Art Konfetti für schöne Zeiten.“ Zumal man davon ausgehen kann, dass es immer schwierige Situationen, womögliche auch weitere bedrohliche Viren geben kann. Wie die Medien mit der Pandemie umgegangen sind, hat viele Menschen stutzig werden lassen. Wie mit Angst Politik gemacht werden kann, wurde uns in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Wer dieses Buch liest, wird eine Bestärkung erfahren, mit den eigenen Fragen nicht allein zu sein.
Wir haben gesehen, dass der Nationalstaat bei weitem nicht so schwach ist, wie er sich darstellte, und doch die Handlungsfähigkeit, z.B. in punto Impfstoff, nicht erbrachte, wie man es sich wünschte. Sprachmächtig, wie man es von diesem Autor erwartet, mischt sich Heribert Prantl in viele Themen ein, die uns heute umtreiben. Demonstrationsfreiheit für wen? Wie umgehen mit Verschwörungstheorien und Zombiegeschichten? Und: Welche drängenden Probleme sind hinter der Corona-Gefahr unserer Aufmerksamkeit entglitten? Alleine schon den Buchkauf rechtfertigen würde das Kapitel „Von Corona aufgefressen“, beginnend mit einem Report aus dem Gefängnis, Texten zur Lage von Edward Snowden und Julian Assange, dem Appell für Abrüstung und eine neue Friedensbewegung bis zur Warnung vor Datenmissbracuh in einer Zeit der Digitalisierung.
Vieles ist im Umbruch. Was erwartet uns? Dass die Exekutive ihre neu gewonnene Macht wieder abgibt, dürfte nicht so leicht sein. Mehr Staat oder lieber nicht? Nachdenken kann man über dieses und jenes, doch entscheiden kann man es kaum. Nicht mal durch eine Wahl.
Heribert Prantl: Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne. C. H. Beck Verlag, 200 S., br., 18 €.