Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Herfried Münkler: Welt in Aufruhr

Unruhige Zeiten

Herfried Münkler: Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert

Irmtraud Gutschke

„Mögest du in interessanten Zeiten leben“ – das gilt in China nicht als guter Wunsch, sondern im Gegenteil als Verwünschung. Wir wollen ein interessantes Leben haben, aber in Sicherheit und Wohlstand. Nicht umgeben von Kriegen und Krisen, mit denen Veränderungen ja oft einhergehen. Je älter wir sind, umso mehr wünschen wir uns Stabilität.

As Problem ist nur, das Stabilität – in der Natur wie in der Gesellschaft – immer nur kurzzeitig und das auch nur scheinbar erreichbar ist. Insofern hat Herfried Münkler Recht, dass es „Weltunordnung“ immer gab und geben wird. Diese geschichtsphilosophische Perspektive hebt dieses Buch über die Fülle politischer Wortmeldungen hinaus. Wo andere in aufgeregte Polemik verfallen, wählt er den Weg gelassener Analyse, ob die Ergebnisse ihm gefallen oder nicht.

Die kurze „Ära der Sorglosigkeit“ im Westen nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums ist vorbei. Die Vorstellung von einem „Ende der Geschichte“ (wie auch?) war eine Täuschung. Dass die USA zum „Hüter“ einer globalen Ordnung werden könnten, wurde spätestens seit dem 11. September 2001 ad absurdum geführt. „Sie haben sich nicht nur in der arabisch-muslimischen Welt militärisch verzettelt, sondern auch global an politischer Reputation verloren … Bereits unter US-Präsident Obama wurde das Projekt der unipolaren Weltordnung beerdigt…“

Ein Wandel der Weltordnung, wie es eigentlich immer schon gab, kann beunruhigend wirken, gibt Herfried Münkler zu.  Fortschritt durch Veränderung – war das auch früher schon eine vereinfachte Vorstellung? „Das alte Muster der politischen Sortierung nach rechts oder links und Mitte“ habe viel von seiner Aussagekraft eingebüßt, stellt er zu Recht fest. Doch wie gesagt: Unübersichtlichkeit sorgt für Unbehagen. Angesichts schlechter Nachrichten wachsen Sorgen und Ängste und die Versuchung, sich „in Wünschbarkeiten zu verlieren“.

Dagegen versucht Herfried Münkler eine „Erdung“ durch „Rückversicherung in der Geschichte“. Wie verhalten sich historische Konstellationen und große Persönlichkeiten zueinander? Welche Rolle spielen Helfer und Berater? Wieviel vertrauen kann ein Autokrat zu ihnen haben?

Aber die hauptsächliche Frage ist doch, wie die neue Weltordnung aussehen wird, die wir zu erwarten haben. Der „Westen“ wird notgedrungen den globalen Geltungsanspruch seiner Normen und Werte einschränken müssenund sich auf das eigene Territorium konzentrieren. Die jeweiligen einzelnen großen Mächte werden zu Verabredungen und Verträgen kommen, was sich jetzt schon abzeichnet. Und dennoch ist die Frage, ob eine „Anarchie der Staatenwelt“ droht.

Da trifft Herfried Münkler eine interessante Feststellung. O eine Anarchie droht  nur, wenn es mehr als sieben Pole gibt. Diesbezüglich lautet seine Prognose, dass es eine „Weltordnung der großen Fünf“ geben wird. Obgleich der Weg in die Zukunft mit „Zufälligem und Unvorhersehbarem gepflastert“ sei, nennt er die USA, Russland, China, Indien und die EU, wobei letztere noch zu einem machtpolitisch handlungsfähigen Akteur werden müsse, was noch unsicher ist.  Dahinter baut sich eine „zweite Reihe“ auf.

Zu unserer Beunruhigung fügt er hinzu, dass die Wahrscheinlichkeit von bewaffneten Auseinandersetzungen zunehmen könnte. Freilich ist die marktliberale Ordnung des Westens stärker der Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen verpflichtet als autokratische Systeme, aber generell wir die neue Weltornung keine der universalen Werte und Normen sein. Sie ist stärker durch macht- und Geopolitische Imperative als durch religiöse und kulturelle Prägungen gekennzeichnet.  

Wie die Europäer einen relevanten Beitrag zur globalen Sicherheit und weltweiten Frieden leisten könnten, wir ebenfalls in aller Deutlichkeit dargelegt. Da wünscht man sich, dass dieses Buch in politisch maßgeblichen Kreisen zur Kenntnis genommen würde.

Völlig unpolemisch und nüchtern, ist dies das Klügste, das bislang zum Thema Multipolarität gesagt worden ist.

Herfried Münkler: Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert. Rowohlt Berlin, 527 S., geb., 30 €.

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