„Der Kapitalismus ist keine Naturgegebenheit“
Irmtraud Gutschke
Im Titel steckt ein Widerspruch, eine Irritation, die uns aufhorchen lässt: Können sich Beschleunigung und Resonanz denn vertragen? Braucht letztere nicht unser Innehalten, unser Staunen in der Erkenntnis einer allumfassenden Verbundenheit? Einer Verbundenheit, an der es in alten Kulturen keinen Zweifel gab. Alles mit allem im Zusammenhang zu denken, brachte einst ein magisches Bewusstsein hervor, das erst bröckelte und dann hinweggefegt wurde. Vor sehr langer Zeit und, wie es scheint, für immer.
Hartmut Rosa, geboren 1965, ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo ich im übrigen auch einst studierte. Wie gern wäre ich zu einer Vorlesung von ihm gegangen! Dass seine Studentinnen und Studenten von ihm fasziniert sind, lässt sich denken. Und ich bin es auch, gerade weil er, 1965 in einem beschaulichen religiösen Umfeld im Hochschwarzwald geboren, einen ganz anderen Erfahrungshintergrund hat als ich. Meinem politökonomischen Verständnis des Kapitalismus – ich bin bis heute dankbar für dieses „analytische Besteck“ – , fügt er einen normativen Aspekt hinzu, der wohl gerade in den frühen Schriften von Karl Marx sehr deutlich zum Ausdruck kam. Es geht um ein gutes Leben für alle, das aber eine revolutionäre Veränderung zur Voraussetzung hätte.
Die im Westen populäre „Kritische Theorie“, auf die sich auch Hartmut Rosa bezieht, ging aus meiner Sicht davon aus, dass eine soziale Revolution, wie sie Marx, Engels, Lenin im Sinn hatten, erst einmal unmöglich ist. Dagegen musste man im Osten etwas haben, weil die Veränderung der Eigentumsverhältnisse ja stattgefunden hatte. Die soziale Ungleichheit war abgeschliffen. Ein gutes Leben für alle war das Ziel, aber vor dem Hintergrund der enormen Effektivität des Kapitalismus, Waren für jedes Bedürfnis zu liefern, ja Konsumbedürfnisse erst zu wecken, drifteten Ideal und Wirklichkeit immer weiter auseinander. Am Ende stand ein Scheitern, das – so seltsam es ist – heute von vielen Menschen im Osten sogar stärker bedauert wird als damals.
Im Bestreben, die im Kapitalismus zementierten Eigentumsverhältnisse nicht kritisch benennen zu müssen, hat sich das Vokabular geändert. Nicht mehr von Kapitalismus, sondern von Moderne ist die Rede, was ja gleich positiv klingt. Manchmal auch von Spätmoderne (Andreas Reckwitz, Ingolfur Blühdorn, deren Bücher ebenfalls bei Suhrkamp erschienen). Innerhalb dieser Moderne nun macht Hartmut Rosa ein Problem aus, das ihm selber hautnah wurde, wenn er von seinem ruhigen Dorf nach London kam, wo er studierte: die Hast, in der sich die Menschen zermürben bis hin zu Ausgebranntsein.
Dieses allgemeine Empfinden zur Diagnose zu machen und in schlüssige Begriffe zu bringen, ist wichtig. Beschleunigung, Entfremdung, Resonanz – Hartmut Rosa hat Großartiges geleistet, um die individuellen Auswirkungen der krisenhaften Entwicklung im Spätkapitalismus auf eine allgemein fassliche Weise vor Augen zu führen. Sein zusammen mit Andreas Reckwitz veröffentlichter Band „Spätmoderne in der Krise“ steht bei mir in Augenhöhe im Regal. Wie er darin vom erschöpfenden Bemühen sprach, auf einer abwärts fahrenden Rolltreppe nach oben zu laufen, ist ein dermaßen treffendes Bild, dass ich es unter dem beifälligen Nicken meiner Zuhörer immer wieder zitiere.
In seinem Gespräch mit Hartmut Rosa greift Nathanael Walenhorst, Dekan der Fakultät für Erziehungswissenschaft an der Katholischen Universität in Angers, auf das Bild des Hamsterrades zurück, aus dem auszusteigen, einzelne wohl versuchen. Aber der Gesellschaft insgesamt scheint es wesenseigen zu sein, was er wiederum mit den Gefahren des Anthropozäns in Zusammenhang bringt. Wobei es nicht der Mensch als solcher ist, der für unsere natürliche Umwelt eine Gefahr darstellt, sondern jene Produktionsweise, die nach und nach den gesamten Planeten erfasst. Das dürften beide Professoren wohl wissen. Kann man mit guten Worten da etwas ändern? Schwerlich vielleicht. Aber wer es achselzuckend verneint, findet sich mit unhaltbaren Zuständen ab.
„Gewonnen hat die stärkere Kettensäge für den Ast auf dem wir sitzen.“ Was der bayrischen Schriftstellers Carl Amery am Rande einer P.E.N.-Tagung zu mir über die gerade erst vollzogene „deutsche Einheit“ sagte, werde ich bis heute nicht vergessen. Denn die Leute im Osten haben diese „Kettensäge“ ja mehrheitlich gewollt. Wenn man sie in ihrem Tempo etwas drosseln wollte, könnte man versuchen mit denen zu reden, die sie in der Hand halten. Solche einem Versuch wohnt man bei der Lektüre dieses Buches bei.
„Was ist ein gutes Leben?“ Zu Recht geht Hartmut Rosa von dieser Frage aus. Und er richtet sie nicht nach „unten“, wo die Not so sehr drückt, dass das Interesse an soziologischer Forschung eher mau ist. Seine Adressaten sind jene, die „oben“ bleiben wollen und deshalb ihre „Ressourcenbasis“ (ökonomisch, kulturell, sozial, physisch) ständig im Auge haben müssen, damit sie sich nicht minimiert. Die mit der Dynamik der Gesellschaft mithalten, sich neuen Techniken und Sozialpraktiken anpassen müssen, die Zeit gewinnen wollen, aber dadurch immer weniger Zeit haben.
Sie werden Hartmut Rosa zustimmen, wenn er sich gegen „eine blinde Utopie des Machbaren“ wendet. „Eines der Ziele der heutigen Zeit besteht darin, die Welt zugänglich zu machen… Doch die Kehrseite der Medaille besteht darin, dass die Welt taub wird: Was ich besitze, was ich kontrolliere und worüber ich verfüge, spricht nicht mehr zu mir.“
Ein kluger Gedanke! Die Fortschrittsidee hat ja in der Tat „an Glanz verloren“. Bewahren, Risiken minimieren in einer krisenhaften Situation, da ein Abwärtstrend zu befürchten ist. Ruft eine solche Zeit womöglich nach mehr Innerlichkeit? „Eine Landschaft, in der wir uns aufgehalten haben, eine Melodie, die uns berührt hat“, Begegnungen mit anderen Menschen, die etwas in uns bewegten – Hartmut Rosa bringt für seine wissenschaftliche Tätigkeit eine Sensibilität, eine solche emotionale Wahrnehmungsfähigkeit mit, die vielleicht nicht jedem seiner Kollegen gegeben ist. „Ich habe manchmal das Gefühl, dergestalt mit der Welt verbunden zu sein, dass sie mich berührt, erreicht und innerlich bewegt.“ Diese Fähigkeit zur „Resonanz“, so meint er, sei ungemein wichtig, wenn es um das Verhältnis zu anderen Menschen wie auch zur Natur geht. „Wenn wir die Dimension unseres organischen Bandes mit ihr wiedergewännen, würden wir sie nicht mehr so erbarmungslos zerstören“…
„Ein gelungenes Leben ist ein Leben, das in einer Resonanzbeziehung mit der Welt und den anderen steht.“ Wenn ich diesen Satz verinnerliche, habe ich noch keine Antwort auf die Frage, wie eine Gesellschaft verändert werden müsse, um die Bedingungen für ein gelungenes Leben für alle zu ermöglichen. Wobei Hartmut Rosa dafür Denkanstöße gibt, indem er den Gedanken des bedingungslosen Grundeinkommens ins Spiel bringt. „Unsere materiellen Lebensbedingungen wären gesichert, und wir hätten diese existenzielle und materielle Angst nicht mehr.“ Tatsächlich könnten sich vielen Möglichkeiten eröffnen, von der Beschleunigung Abschied zu nehmen, überlege ich. Sich mit weniger begnügen, dafür mehr Zeit für sich gewinnen.
Aber wenn dann sehr viele Leute weniger arbeiten wollten, würde der Kapitalismus in seinem ständigen Profitstreben (beide Gesprächspartner gebrauchen am Ende des Buches tatsächlich dieses Wort) doch ausgehöhlt? „Der Kapitalismus ist keine Naturgegebenheit“, sagt Hartmut Rosa, gibt später indes auch zu, dass eine Revolution nicht durch das Denken in Gang gesetzt werden könne, „dass die Dinge nur langsam vorangebracht werden können“. Wird meine Lebenszeit reichen? Jedenfalls danke ich den beiden Autoren und dem Suhrkamp Verlag für diese nachdenkliche Ermutigung. Am Ende ist es wie ein Aufatmen, was man durch dieses Buch erfährt.
Hartmut Rosa: Beschleunigen wir die Resonanz! Bildung und Erziehung im Anthropozän. Gespräche mit Nathanael Wallenhorst. Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp, 78 S., geb., 14 €.