Kollabierende Systeme
„Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr“: Harald Welzer gibt Denkanstöße
Irmtraud Gutschke
Alarmieren und zugleich inspirieren – wie persönlich er das macht, ist Harald Welzers Markenzeichen. Wissend, wie Öffentlichkeit hergestellt wird, nimmt er den Mund voll. „Zeitenende“: Sofort denkt man an „Zeitenwende“, womit der Bundeskanzler ja für den Eintritt Deutschlands in den Ukraine-Krieg warb: „Wir investieren in die Sicherheit unseres Landes.“ Was Vasallentreue zu den USA betrifft, während deren monopolare Weltordnung erodiert, kann man deutscher Politik ein „Leitbild“ nicht absprechen. Neoliberalismus auf Teufel komm raus. „Soziale Marktwirtschaft“ lange begraben. Aber nicht wenige DDR-Bürger glaubten noch daran, als sie für den Beitritt zur Bundesrepublik votierten. Wie dem Autor dieses Buches lag ihnen eine „freiheitliche Ordnung“ am Herzen, aber Vorrang hatte das Wohlstandsversprechen.
Harald Welzer spricht offen vom Ende „einer westlich geprägten Epoche“. Und er sieht die Gefahren: „Kollabierende Systeme sind wie der Koyote im Zeichentrickfilm, der über den Abgrund hinausrennt und erst viel später merkt, dass er keinen Boden mehr unter den Füßen hat.“ Wenn aber „ein in ökonomischer Hinsicht extrem erfolgreiches Modell an sein Ende gekommen ist“, was wären die Schlussfolgerungen? Dass die Bundespolitik im „Jetzt“ feststeckt und immer nur diejenigen Interessen herrschen, „die jetzt die größte Chance haben“, darin hat Welzer wohl Recht.
Nicht erst seit heute kritisiert er deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine und steckt dafür Medienschelte ein. „Das Problem, das man insbesondere am Beispiel der grünen Partei studieren kann, ist Moralismus.“ Doch „ein Moralismus, der den Pazifismus diskreditieren zu müssen meint, weil jetzt gerade Zeitenwende ist“, erweist sich „als ungut und gefährlich“. Dazu gehört, „dass vor lauter Betonung von Solidarität und fast bedingungsloser Unterstützung des angegriffenen Staates, der – man muss heute schon daran erinnern – kein Bündnispartner ist, Definitionen von Kriegszielen, vor allem aber die Haltung anderer Staaten zu diesem Krieg in der medialen Öffentlichkeit kaum diskutiert werden.“ Wie deutsche Medien „die Doppelmoral des Westens“ stützen, treibt den Autor um. Zum Zusammenhang von Klimawandel und Militär bietet er eine Fülle erhellender Fakten, beginnend mit den CO2 -Emissionen im Afghanistankrieg. „Ein Leopard-II-Kampfpanzer, wie er insbesondere von den Grünen für den Kriegseinsatz in der Ukraine gefordert wurde, verbraucht etwa 500 Liter Diesel auf 100 Kilometer, und Kampfflugzeuge wie ein B-2-Bomber emittieren alle 45 Kilometer eine Tonne CO2.“
Wie da Bürgern einsichtig werden soll, um der Klimaziele willen auf ihr Verbrenner-Auto zu verzichten, diese Frage stellt der Autor nicht, weil er grundsätzlich meint, dass eine Veränderung des Lebensstils unausweichlich ist. „Nachhaltig zu wirtschaften und auch zu leben“, sieht Harald Welzer als Gebot der Zeit. Es ist ihm klar, dass diese Aufforderung, vielfach als „Zumutung“ empfunden wird. Wirtschaftswachstum ohne gewissenlose Ausbeutung der Natur hat es bislang nicht gegeben. Zudem existieren viele Ungereimtheiten, von denen einige hier aufgeführt sind. Laut Greenpeace hat es 2022 zum Beispiel in Deutschland 58424 Flüge mit Privatflugzeugen gegeben, die 208645 Tonnen Kohlendioxid freigesetzt haben, die meisten auf der Strecke Berlin-Köln, für die man im ICE viereinhalb Stunden gebraucht hätte. Wobei auch die einseitige politische Konzentration auf die CO2-Emissionen, „weil man auf diese Weise Messgrößen für Fortschritte hat“, zu kritisieren ist. „Man muss nur an den künftigen Bedarf von Rohstoffen denken, den man für die Dekarbonisierung braucht.“
Das Buch beginnt mit einer Erinnerung an den Fußballer Uwe Seeler, der ein hoch dotiertes Angebot von „Inter Mailand“ ablehnte, weil er ja „nicht öfter als dreimal am Tag ein Steak essen“ könnte und in Hamburg bleiben wollte. Er kam aus einer Arbeiterfamilie und war wohl „die letzte öffentliche Person in Deutschland …, die ‚nur‘ einen Hauptschulabschluss hatte.“ Es stimmt, dass Menschen wie er heute zu wenig öffentliche Geltung haben. Ob eine andere Zusammensetzung des Bundestages – 87 % haben Hochschulausbildung, 16% einen Doktortitel – zu einer besseren Politik führen würde?
Die Forderung, dass die Köchin den Staat regieren sollte, gab es schon, und ein Dachdecker stand tatsächlich mal ganz oben. Es hat nicht funktioniert. Die Bedürfnisse nach Wohlstand und Freiheit wie im Westen kollidierten in der DDR mit den realen Möglichkeiten. Dass Harald Welzer sehr wenig vom Osten weiß, unterscheidet ihn nicht von der Mehrheit der Bundesdeutschen. Aber es käme ihm zugute, wenn er sich kundiger machen würde, denn nicht wenige seiner Vorschläge, die er am Schluss des Buches äußert, wurden unter anderen Bedingungen schon ausprobiert. Für die Zukunft wäre es gut zu wissen, woran sie scheiterten.
Wieder ein Alarmruf mehr? Das Buch ist mehr als das, nicht nur weil der Autor mitreißend erzählen kann. Detailliert beschäftigt er sich mit politischen Entscheidungen, Medienöffentlichkeit und schwindendem gesellschaftlichem Zusammenhalt. Auf analytische Weise legt er den Finger auf manche Wunde. Allem voran das Umweltproblem. „Die Natur wurde systemunabhängig als ein grenzenloses Lager voller Rohstoffe für die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse definiert und als solches behandelt.“
Wenn dem nicht länger so sein soll, bedarf es grundlegender Umwälzungen. Es stimmt wohl, dass dabei die Verantwortung jedes einzelnen gefordert ist. Aber, wie Heinrich Heine schon 1844 in „Deutschland, ein Wintermährchen“ schrieb: „Ich kenne die Weise, ich kenne den Text,/ Ich kenn’ auch die Herren Verfasser;/ Ich weiß, sie tranken heimlich Wein/ Und predigten öffentlich Wasser.“ Naturschutz hat seinen Preis ebenso wie soziale Gerechtigkeit. Darüber muss nachgedacht und verhandelt werden. Harald Welzer gibt Denkanstöße.
Harald Welzer: Zeitenende. Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr. S. Fischer Verlag, 302 S., geb., 24 €.