Zeiten der Unsicherheit als Chance?
Zwei Professoren: der eine Astrophysiker, der andere Theologe. Beide als Buchautoren und einem großen Publikum auch aus dem Fernsehen bekannt. Sie kennen und vertrauen einander. So kann man nicht genau sagen, welche Passage dieses Bandes von dem einen oder dem anderen stammt. Wenn es physikalisch wird, ist es Lesch, aber der hat auch seine Lebensweisheiten beizutragen. „Unberechenbar. das Leben ist mehr als eine Gleichung“ ist als eine sanfte Ermutigung in krisenhaften Zeiten, aber in der Essenz auch ein Appell, dass eine andere Gesellschaft nötig und möglich ist.
Es ist bei solcherart Büchern immer das Problem, dass sie persönliche Einstellungen diskutieren und deren sozialökonomische Wurzeln nur vorsichtig streifen. Andererseits können letztere auch als Ausrede dafür dienen, dass die Verhältniss nun mal so sind und man persönlich nichts ändern muss. Der „Turbokapitalismus“ mit dem Dauerzwang zur Effizienz wird wohl benannt, aber kann man sich „die erschöpfte Gesellschaft“ als einen Patienten vorstellen, den man in stabile Seitenlage bringen und ihm hernach eine Auszeit verordnen muss? Was verbal geht, ist real ziemlich schwierig. Corona bietet zwar eine Auszeit vom Reisen und sonstigen Belustigungen, einige könnten Zeit für Waldspaziergänge haben, doch bei weitem nicht alle.
„Berechenbarer = beherrschbarer = besser“ wird als Grundgleichung des „Technikwahnsinns“ benannt. Die Digitalisierung als Zwickmühle bezeichnet, weil dadurch einerseits intelligente Lösungen für viele Probleme bereitgestellt werden, die aber andererseits so viel Energie kosten, dass ein Teufelskreis entsteht. Das „Unfehlbarkeitsdogma der Technik“ wird in Frage gestellt (der Astrophysiker Harald Lesch muss es wissen). Dass die Technisierung zu Abhängigkeit führt, ja sogar zu Zwang, muss wirklich einmal laut gesagt werden. Verhältnisse werden geschaffen, die eine große Zahl von Menschen auch ausgrenzen, weil sie bei der Digitalisierung vieler Lebensbereiche nicht mehr mithalten können. teilhaben können.
Vor zwei Jahren hätte der Vorschlag der Autoren zu einer notwendigen Vorratshaltung altmodisch wirken können. Aber Corona hat zumindest bei Arzneimitteln und Medizinprodukten eine vernünftige Lagerhaltung angemahnt.
Ein anderes Problem: „Je größer das Bruttosozialprodukt eines Landes ist, desto höher ist auch sein Energieverbrauch … Wir reißen alles an Reserven und Ressourcen an uns“, als ob sie unerschöpflich wären. Nachhaltigkeit, Achtsamkeit – darüber ist schon oft geredet worden. Auch vom Ende des Wachstums und einer Entschleunigung des Lebens. Da dies nicht mit dem eingangs erwähnten Turbokapitalismus vereinbar ist, bedeutet das doch eine Abschaffung desselben. Aber wie? Indem immer mehr Menschen sich selbst besinnen, das sie so nicht leben wollen. Dieser Gedanke jedenfalls steckt im Buch, wobei den Autoren wohl zustimmen ist, dass Innehalten auch produktiver machen kann, dass Schöpfertum auch ein Element des Spiels enthält. Von Sehnsüchten nach Sicherheit, Verlässlichkeit ist die Rede und von der notwendigen Anerkennung von Unberechenbarkeit des Lebens, die auch ein Gefühl von Freiraum schenken kann. Momentan machen wir ja wirklich die Erfahrung, dass so vieles in Wanken geraten ist, woran wir gewöhnt waren. Die beiden Autoren führen vor Augen, dass Eindeutigkeit immer schon eine Illusion war und zeichnen dadurch im Ganzen ein ermutigendes Bild.
Wie will ich, wie wollen wir leben? Welche Gestaltungsmöglichkeiten habe ich momentan, welche wünsche ich mir hinzu? Was kann ich ändern? Es ist auf jeden Fall sinnvoll, sich mal solche Fragen zu stellen.
Irmtraud Gutschke
Harald Lesch/ Thomas Schwartz: Unberechenbar. Das Leben ist mehr als eine Gleichung. Herder Verlag, 176 S., geb., 18 €.erlag.