Im Gespräch mit den Engeln
„Der ferne Magier“: Gunnar Decker gelang eine berückende Rilke-Biographie
Irmtraud Gutschke
Zu „bürgerlich, altmodisch und zeitenfern“ sei Rainer Maria Rilke manchem Berühmten in der Kunstwelt und für nachfolgende Germanisten gewesen, schrieb Klaus Bellin, der von mir hochverehrte Rezensent, im nd. Es stimmt: Vielen war er nicht modern genug. Aber das ist doch gerade der Reiz. Und Gunnar Decker verstärkt diesen Reiz bereits mit dem Titel seiner opulenten Biographie: „Der ferne Magier“. Magier? Das klingt nach Mystik. Soll es auch.
„Dieses Buch will Rilke als modernen Mystiker vorstellen, als einen Beschwörer der Als-ob-Existenz Gottes“, heißt es schon im Vorwort. „Mystik sei die Wiedergeburt Gottes auf dem Grunde der Seele, hatte Meister Eckhart gesagt. Und Robert Musil spricht für das 20. Jahrhundert von der ‚taghellen Mystik‘“, die sich der Leerstelle bewusst ist, die „der abwesende Gott hinterlassen hat“.
Gunnar Decker folgt in seiner Biographie akribisch dem Lebensweg des Dichters – von den Anfängen in Prag, wo er 1875 geboren wurde, bis zu seinem Tod 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux. Er hat ja 2004 schon einmal ein Buch über „Rilkes Frauen“ geschrieben und auch hier erzählt er mitreißend davon, was „Erfindung der Liebe“ für diesen eher in sich gekehrten Mann bedeutete. Und vor allem eben auch für die Frauen, beginnend mit der selbstbewussten Lou-Andreas Salomé bis hin zu den vielen Verhältnissen und Lieben. „Zuerst fällt es ihm leicht, sich einer Frau – gleich älter oder jünger – anzunähern, denn das Gefühlshafte, das Offene, das Zugewandte, auch Sorgende einer Frau macht es ihm leichter, zu ihr in Kontakt zu kommen … “ Doch wenn die Frau dann „auf gelebter Partnerschaft besteht“, flüchtet er.
Aus ihrer Sicht ist es verständlich, dass Lou-Andreas Salomé ihn des Narzissmus beschuldigte. Aber, grob ausgedrückt, der Mann brauchte einfach seine Ruhe. Oder, aufs Dichterische bezogen, seine Seele strebte ins Weite, und das ging nur ohne Begleitung. Gunnar Decker nennt ihn einen „säkularen Mönch“. In sich gekehrt, anders vermochte er nicht zu leben. So können nicht nur Männer, sondern auch Frauen sein. Nur müssen sie das meist verstecken. „In Marina Zwetajewa begegnet er seinem Spiegelbild“, schreibt Gunnar Decker. Ihr ekstatischer Briefwechsel war das gelungene Beispiel einer „erfüllten Fernstenliebe“.
Überhaupt Russland: Zwei Reisen hat Rilke mit Lou-Andreas Salomé dorthin unternommen, die bleibenden Eindruck hinterlassen haben. Weniger im eher westlichen Glanz von St. Petersburg als in Moskau hat er ein „Heimgefühl“ in sich entdeckt, etwas, das auch andere voller Verwunderung in sich spürten. Er versuchte sogar, sich ins Russische einzulesen. Die beiden besuchten Klöster, badeten im Dnjepr, empfanden die Magie, die von der Wolga ausgeht. Sie kommen mit Leonid Pasternak in Verbindung, treffen Lew Tolstoi und den Bauerndichter Spiridon Droschin. Dass der slawophile Mystiker Wladimir Solowjow für Rilke faszinierend war, verwundert nicht.
Vormoderne – ein meist despektierlich gebrauchter Begriff, so als ob jemand irgendwie zurückgeblieben sei. Aber jemand muss auch aufsammeln, was vom rasenden Fortschrittszug zurückgelassen wurde: ein Gespür, eine Ahnung, ein Sehnen, dass da etwas Unerklärliches ist, welches das Innen und Außen verbindet. Dass sich überhaupt alles in einem Zusammenhang befindet. Gunnar Decker kennt das wohl, sonst könnte er es in Bezug auf Rilke nicht so hellsichtig beschreiben. Diese „Privatmythologie“, zu der sogar Engel gehören, die in den „Duineser Elegien“ alles andere als niedliche Weihnachtsengel sind. „Mit ihnen kann man sich nicht verbrüdern, denn sie sind nur zur einen Hälfte diesseitig, zur anderen sind sie jenseitig. Sie leben und sind zugleich tot.“
„Sprechen, das zugleich Verstummen ist“ – aus sich selbst heraus hat Gunnar Decker diesen Dichter erkannt. „Das mystische Sprechen, dem Rilke sich hier übergibt, ist keines, das einen Inhalt kommuniziert, es ist selbst der Inhalt. Es spricht stammelnd und stockend, denn für das zu Sagende gibt es noch keine Sprache, die man einfach gebrauchen kann – sie entsteht erst im Augenblick der Wort-Schöpfung. Für Momente vermag sie befreit aufzusingen, um dann abrupt abzubrechen.“
Diese Dichter-Biographie, so materialreich und genau sie ist, lässt sich durch ihres Autors Kunst selbst als Dichtung genießen.
Gunnar Decker: Rilke. Der ferne Magier. Eine Biographie. Siedler Verlag, 607 S., geb., 36 €.