Überzeugende Expertisen
Der von Götz Neuneck herausgegebene Band „Europa und der Ukrainekrieg“ ist faktenreich und aufrüttelnd
Irmtraud Gutschke
Nun schon über zwei Jahre lang liegt einem der Ukrainekrieg auf der Seele. Von den vielen Büchern, die ich zu diesem Thema gelesen habe, ist das vorliegende ein besonderes. Zum einen, weil es eine Sammlung von Aufsätzen ist, die sich unter verschiedenen Blickwinkeln detailliert und präzise den „Chancen und Herausforderungen für eine zukünftige Friedens- und Sicherheitspolitik“ widmen. Zum anderen, weil die Autoren während der Systemauseinandersetzung im Kalten Krieg nicht auf derselben Seite standen wie ich. Sie sind im Gedanken aufgewachsen, die Sowjetunion als Bedrohung wahrzunehmen. Das ist eine Ansicht, die ich gefühlsmäßig nicht teile, obgleich mir der Angriff auf die Ukraine das Herz zerreißt und ich inständig wünsche, dass dieser Krieg recht bald zu Ende gehen möge.
Was letzteres betrifft finde ich in diesem Band allerdings Gleichgesinnte. Und das nicht irgendwelche, sondern Diplomaten, Militärs, Wissenschaftler – Experten also, die sich in der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler zusammengeschlossen haben. Von deren Vorsitzenden, Götz Neuneck, ist der Band auch herausgegeben. Und sehr klug zusammengestellt, sei hervorgehoben. Von der Vorgeschichte des Ukrainekriegs (Rüdiger Lüdeking) reicht er bis zu möglichen Perspektiven einer Sicherheitsordnung, die zu nachhaltigem Frieden führen könnte.
Dazu ist, wie gesagt, vieles schon geschrieben (Daniela Dahn, Gabriele Krone-Schmalz, Sevim Dagdelen, Lothar Schröter, Arne Seifert u.a.) Aus prononciert kritischer Perspektive bezüglich deutscher und US-amerikanischer Politik. Die klingt hier nur leise an, wirkt manchmal wie versteckt. Da ich diesbezüglich keinen Nachhilfeunterricht brauche, beeindruckt mich das Buch gerade dadurch, dass es nicht polemisch ist.
Da wir inzwischen bis zum Hals im Meinungsgefecht stecken, ist nüchterne Sachlichkeit ein hohes Gut. Freilich kann man auch sachlich in diese oder jene Richtung argumentieren. Aber die hier vereinten Autoren sind ja, wie gesagt, Gleichgesinnte, indem sie Frieden wollen und damit eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung hinter sich haben. Sie liefern Expertisen. Der Wunsch, dass diese von politisch Verantwortlichen zur Kenntnis genommen würden, lässt die Lektüre so eindrücklich wirken.
So detailliert wie Oberst a.D. Wolfgang Richter konnten weder deutsche wie russische Medien über den Kriegsverlauf, die Ressourcen und Risiken informieren. Weithin wurde doch der Eindruck genährt, dass da ein kleines, schwaches Volk überfallen worden sei. Aber die ukrainische Armee war der russischen zu Beginn des Krieges sogar personell überlegen, von westlicher Seite schon lange hochgerüstet und führte einen Krieg gegen die „abtrünnigen“ Republiken Donezk und Lugansk. Der Ukraine-Krieg hat also nicht erst 2022 begonnen. Seit dem 24. März 2021 gab es einen ukrainischen Erlass „über die Strategie der De-Okkupation und Wiedereingliederung des vorübergehend besetzten Gebietes der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol“.
Ob da aus ukrainisch-westlicher Richtung nicht schon alles auf einen russischen Angriff ausgerichtet war, frage ich mich da, ob dieser nicht geradezu erwartet wurde – als „strategische Falle“, wie es Georg Auernheimer im Band „Die strategische Falle“ (Papyrossa 2024) darstellte. Wenn ein Krieg mit Moskau verhindert werden sollte, wäre Kiew doch zur Erfüllung des Minsker Abkommens gedrängt worden, anstatt angesichts der Kampfhandlungen gegen die Bevölkerung von Donezk und Lugansk die Augen zuzudrücken.
Dass die Ukraine auch technisch über das zweitstärkste Heer in Europa verfügte, wie Wolfgang Richter schreibt, wusste ich nicht. Russland schickte immer mehr seiner Reserven an die Front und konzentrierte sich auf die Entwicklung und Produktion neuer moderner Raketentypen. Schlussfolgerung: „Es wäre politisch unklug und unmoralisch, Verhandlungsinitiativen zu unterlassen und stattdessen die Ukrainer zu ermutigen, für die Wahrung von Prinzipien und westlichen Interessen an der Schwächung Russlands zu sterben. Völlig verantwortungslos wäre es, Schritte zu unternehmen, die eine weitere Eskalation auslösen und Europa in den Krieg oder gar eine nukleare Katastrophe führen könnten.“
Diese Sorge klingt auch in anderen Texten an, sei es in der Frage der antirussischen Sanktionen, die auch die eigene Bevölkerung treffen (Hans-Jochen Luhmann) oder zum „ethischen Dilemma“ der atomaren Abschreckung, vor der Brigadegeneral a.D. Helmut A. Ganser warnt. Als Militär muss er die Rolle der NATO für Deutschland und umgekehrt positiv beurteilen und sich eine sicherheitspolitische Autonomie der EU wünschen. Dabei weiß er aber auch viel besser als unsereins über die Folgen eines Atomkriegs Bescheid. „Es darf nicht sein, dass eine strikt wertebasierte Außen- und Sicherheitspolitik liberal-demokratische Werte mit dem Argument, man dürfe sich nicht erpressen lassen, höher gewichtet als das Fernhalten von nuklearen Eskalationsrisiken, bei denen es um alles oder nichts gehen kann.“
Was das politisch bedeutet, darauf geht Jürgen Scheffran ein: „In einem neuen Kalten Krieg zwischen der transatlantischen und eurasischen Welt wird Europa geschwächt und in einen Konfrontations- und Aufrüstungskurs hineingezogen, der Sicherheit auf militärische Dimensionen und Bedrohungsabwehr verengt.“ In dieser Situation befinden wir uns ja schon bereits, was nicht heißt, dass sie sich noch viel weiter zuspitzen kann.
Götz Neuneck (Hg.): Europa und der Ukrainekrieg. Chancen und Herausforderungen für eine zukünftige Friedens- und Sicherheitspolitik. Mitteldeutscher Verlag, 232 S., br., 20 €.