Auf dem Weg zu einer multipolaren Weltordnung
Irmtraud Gutschke
Der Autor dieses Buches lebt seit 1994 in Peking. Seine Insiderkenntnisse sind es, die sein Buch so interessant machen. Als Wolfram Elsner vor vier Jahren in seinem bei Westend erschienen Buch China die „neue Nummer eins“ nannte, mochten manche noch erstaunt die Brauen heben. Heute gibt es keinen Zweifel mehr daran, wie dieses Land seine Wirtschaftskraft mit politischer Einflussnahme verbindet – im Sinne einer multipolaren Weltordnung, die den Westen nicht bedrohen müsste, wenn er nicht auf Dominanz bestehen würde. „Die Zeiten, in denen die Minderheit des Westens allein die Spielregeln der Welt bestimmen konnten, sind vorbei“, schreibt Frank Sieren und nennt diesen Wandel „gewichtig und richtig“.
Dass die meisten Menschen hierzulande sehr wenig von China wissen, macht dieses Buch so wichtig. „100 innovative Trends und innovative Einblicke“ werden versprochen. Kurze, erhellende Texte, Aha-Erlebnisse noch und noch. Vieles ist bewundernswert, wie der Transrapid 2.0, die Hochgeschwindigkeits-Schwebebahn, die herkömmliche Flugzeuge ersetzen könnte. Auch will China ab 2035 Hyperschallflugzeuge betreiben.
Mit seiner Kraft zur Innovation stellt dieses von einer kommunistischen Partei regierte Land (die KPCh kommt hier allerdings zu kurz) tatsächlich den Westen in den Schatten: Strom aus dem Weltall gewinnen, den mit über 1400 Kilometer längsten Tunnel der Welt zu bauen, um Wasser aus dem Süden in den Norden zu pumpen, mit genmanipulierten Pflanzen Erträge zu erzielen, die den Hunger in der Welt besiegen könnten, mit Dach-Solaranlagen die Energie von 12 bis 25 Atomkraftwerken pro Jahr zu ersetzen … Wobei ich beim Lesen auch ein Zögern und Zweifeln spüre. Würde ich in ein Taxi ohne Fahrer steigen? Ist autonomes Fahren nicht auch riskant? Das Klonen von Schweinen durch KI-Roboter weckt bei mir Vorbehalte. Einen Helm, der Gedanken lesen kann, finde ich beängstigend. Und dass China der weltgrößte Exporteur von Militärdrohnen ist, passt doch eigentlich nicht zur Bekundung von Friedensliebe.
Die 100 Texte sind wie ein vielfarbiges Puzzle. Frank Sieren gibt Denkanstöße, nimmt uns aber die Denkarbeit nicht ab. Er verschweigt nicht, wie rigoros der chinesische Staat vorgeht, wenn es um innere Stabilität und Sicherheit geht. Er denkt nicht in Schwarz-Weiß und ordnet auch seine Texte nicht so. Die vielen Erfahrungen in China haben ihn nicht unkritisch werden lassen, aber ihm auch eine wägende Nachdenklichkeit geschenkt, wie man sie ihn Medien hierzulande oft vermisst. Er denkt nicht in Kategorien der Konfrontation, sondern macht verständlich, wie China – durchaus auch im eigenen Handelsinteresse – auf Kooperation setzt.
Ohne großes Geschrei verwirklicht sich vor unseren Augen ja tatsächlich ein Umbau der Welt. Während die G7 11 Prozent der Weltbevölkerung vertreten, sind es bei den BRICS-Ländern Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika 40 Prozent, die im übrigen dazu beitragen, Russland nicht zu isolieren, wie es im Westen gefordert wird. Könnte China helfen, den Ukraine-Krieg zu beenden? Welche globalen Abhängigkeiten entstehen? Und wie sieht es im Inneren des Landes aus? Wer sich für all das interessiert, muss sich hier nicht durch ein dickes Buch quälen, sondern bekommt Wissen ebenso informativ wie unterhaltsam häppchenweise serviert.
Frank Sieren: China to go. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. 100 innovative Trends und erhellende Einblicke. Penguin Verlag, 318 S., geb., 24 €.