„Eine neue Vision muss her“
Irmtraud Gutschke
„Eine Marketingprofessorin steht im Hörsaal der Universität. Jedes Jahr hält sie die gleiche Vorlesung darüber, wie man mit zielgruppenorientierter Kommunikation Menschen dazu motiviert, Produkte und Dienstleistungen zu kaufen.“ Die ihr zuhören sollten, blicken derweil in ihre Smartphones, vielleicht prägen sie sich später in der Bibliothek die Mantras der Professorin ein. Flo von Schreitter könnte das selbst bei seinem Studium der Betriebswirtschaftslehre erlebt haben. Den Studierenden soll beigebracht werden, „dass die rationale Entscheidung, die den eigenen Nutzen maximiert, das Beste ist. Der Homo oeconomicus ein gewinnorientiertes Arschloch?“
Freilich, so könnte man antworten. Ziel und Ergebnis des kapitalistischen Produktionsprozesses ist der Profit. Arbeitskräfte sollen Mehrwert erwirtschaften. Dazu müssen sie befähigt werden. Schulen und Universitäten werden derzeit immer rigoroser auf das dafür Notwendige getrimmt. Beschäftigungsfähigkeit am Arbeitsmarkt ist das Ziel. Was braucht man dafür und was nicht? Das herrschende Bildungssystem ist von marktwirtschaftlichen Interessen dominiert. Das ist nicht verwunderlich. Wie das grundsätzlich kritisiert wird, ist der Ertrag dieses Buches.
Grundsätzlich. In diesem Sinne unterschätze man Flo von Schreitters Arbeit nicht. Für eine zukunftsorientierte Bildung ist Wissen notwendig, aber es ist nur ein Teil. Darin werden ihm viele zustimmen. Auch dass der rasante technologische Fortschritt neue Anforderungen mit sich bringt, ist allgemein plausibel. Aber er hat sein Buch geschickt so angelegt, dass man beim Lesen über das derzeit Plausible hinaus gelangt. Nicht in fremde gedankliche Gefilde. Nein. Werte wie Gemeinsinn, Verantwortung, Selbstständigkeit, Lebenssinn haben sich ja in jenem zivilisatorischen Prozess verbreitet, der mit dem Kapitalismus verbunden war. Dass sie mit diesem zusammen in die Krise kommen, ist eine nicht zu unterschätzende Gefahr.
„Es wird darum gehen, ob Technologie, Roboter und Algorithmen irgendwann Menschen aus der Erwerbstätigkeit und Selbstverantwortung drängen, weil wir heute nicht die richtigen Stellschrauben justiert haben. Wir müssen darüber reden, welche Rollen Empathie und Charakter in unserem neuen Bildungsideal spielen sollen. Und wir werden erkennen, dass auch große Themen wie Nachhaltigkeit, Glück oder Demut eine zentrale Rolle spielen.“
Dieser Autor, Jahrgang 1990, blickt in die Zukunft und packt große Fragen an. So groß, wie es viele nicht wagen. Er weiß genau, dass Wettbewerb und Gemeinsinn „zwei starke Gegenpole“ sind. Über die Welt, wie sie ist, braucht man ihn nicht zu belehren, aber er ist sich sicher: Für das Bestehen der Welt ist Gemeinsinn unverzichtbar. Denken in globalen Zusammenhängen, das nicht bei den westlichen Denkweisen halt macht. Wie aus dem Klappentext zu erfahren, hat von Schreitter Südostasien und Südamerika bereist und sich als Entwicklungshelfer in Kamerun engagiert. Er hat fremde Lebensweisen kennengelernt und ist wohl auch in einer materiellen Lage, dass er die Bedeutung von Geld für das Lebensglück hinterfragen kann.
Schon auf den ersten Seiten des Buches erinnerte ich mich an einen damals in der DDR vieldiskutierten Essay, in dem die Schriftstellerin Inge von Wangenheim im Grunde das DDR-Volksbildungssystem kritisierte. Auch sie hob die Notwendigkeit von Bildung gegenüber bloßer Wissensvermittlung hervor. Die humanistische kulturelle Bildung, die sie in ihrer Jugend noch genossen hatte, schien ihr unterrepräsentiert. Dabei klang das in der DDR formulierte Bildungs- und Erziehungsideal erst einmal gut. „Allseitig und harmonisch entwickelte sozialistische Persönlichkeiten“ sollten herangebildet werden. Die Fußangel steckte im Wort „sozialistisch“. Fasst man es in einem großen humanistischen Sinne oder verengt ideologisch auf?
Als Schülerin der ersten Klasse wurde mir erzählt, dass ich später in einer Welt leben würde, in der Geld überflüssig sei. Jeder könne dann nach seinen Bedürfnissen leben. Und wenn ich ganz viel Schokolade will, fragte ich die Lehrerin. Du würdest dir an zu viel Schokolade erstmal den Magen verderben und dann vernünftig werden, sagte sie. Später ist die Utopie realitätsnäher geworden: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Leistungen.“ Aber die Entwicklung der Produktivität hielt mit der der Bedürfnisse nicht Schritt. Eine andere Gesellschaft sollte entstehen und scheiterte. Viele sahen darin den Beweis, dass jeder Versuch, das herrschende System zu verändern, letztlich ebenso misslingen muss.
„Eine neue Vision muss her“ – das ist nicht nur eine Zwischenüberschrift im Buch, das ist eine Kernaussage. Der Autor macht keinen Hehl daraus: ein neues Bildungsideal hängt mit gesellschaftlichen Veränderungen zusammen. Es kann diese fördern, hat in ihnen aber zugleich eine Voraussetzung. Das denkt man mit, auch wenn sich das Buch auf die Bildung konzentriert. „Wir rütteln hier an den Grundfesten, den Fundamenten unseres heutigen Systems.“ Was wäre erstrebenswert, was wäre machbar? Wie zur „Wissensbildung“, die „Fertigkeitsbildung“, die „Herzensbildung“ (ich glaube, auch dieses Wort verwendete Inge von Wangenheim) und die „Haltungsbildung“ kommen müssten, wird hier ganz konkret ausgearbeitet. Es geht um das Fremdsprachen-Lernen, den Beruf der Lehrerin, die eigentlich Lebenstrainerin sein müsste, Mini-Praktika, Debattenkultur, ein gutes Klima in der Familie, Achtsamkeit bis hin zur Wertschätzung und Bezahlung systemrelevanter Berufe. Alles berechtigt und wichtig. „Denn die Wirtschaft darf kein Selbstzweck sein, sondern muss immer den Menschen dienen und nicht umgekehrt.“ Wäre es doch so!
Eine mutige Wortmeldung, der man eine möglichst große Wirkmacht wünscht.
Flo von Schreitter: Die Macht der Bildung. Warum wir dringend ein neues Bildungsideal brauchen. 310 S., geb., 22 €.