Über Grenzen hinaus
Von Irmtraud Gutschke
In einem der Romane des berühmten Science Fiction-Autors Stanislaw Lem kommt ein Raumschiff vor, das mittels Gedanken gesteuert wird. Allmacht oder Unterdrückung? Unterdrückt werden müssen dabei auf jeden Fall alle Gedanken und Gefühle, die nicht zur Absicht des Steuerns gehören, die womöglich in etwas Absurdes, Paradoxes weisen, was dem Menschen ja auch eigen ist. Eine Disziplinierung aller geistigen Impulse – das ist keine angenehme Vorstellung.
Vorliegendes Buch lockt mit einer Faszination, die ans Unheimliche grenzt. Erklärt wird nicht nur, „wie unsere Gedanken entstehen“, sondern auch, „wie man sie lesen kann“, was als Verletzung persönlicher Autonomie erscheinen muss. Einbruch ins „geheime Kämmerlein der Gedanken“? Präzise und auch für Laien nachvollziehbar beschreiben die beiden Autoren, wie weit die Wissenschaft diesbezüglich schon vorangekommen ist. Natürlich ist es sinnvoll zu wissen, wo im Gehirn sich die verschiedenen Zentren befinden, um sie bei einer notwendigen Operation möglichst nicht zu beschädigen. Aber es kommt einem doch einigermaßen gruslig vor, wenn der Patient – oder ist es doch eher eine Versuchsperson – bei offenem Gehirn bei Bewusstsein ist, damit diese Messung durchgeführt werden kann. Dass das Gehirn selbst keine Schmerzrezeptoren besitzt, kann diesbezüglich nur wenig beruhigen.
Hirnkarten, Lagepläne unserer Gedankenwelt – „die Gedanken lassen sich aus der Hirnaktivität tatsächlich bis zu einem gewissen Grade auslesen“, wie hier dargestellt wird. Allerdings ist da eine Codierung zu entschlüsseln, wozu leistungsfähige Computer durchaus beitragen können. Auch Träume auszulesen, wurde schon versucht. Ist wissenschaftlicher Ehrgeiz einmal angestachelt, wird er nicht zu bremsen sein. Das Buch ist insofern eine Entdeckung, da der Allgemeinheit gar nicht bewusst ist, was die Neurowissenschaft schon alles vermag. Hirnscanner an Flughäfen, um mögliche Attentäter zu erkennen? Sie würden sich wappnen, sich selbst manipulieren. Neuromarketing? Es findet doch schon längst statt!
Am Schluss erfahre ich, dass Lems Vorstellungen inzwischen schon realisierbar sind. Menschliche Überlegungen direkt in Text verwandeln, Spielen mit der Kraft der Gedanken, Verbindungen zwischen Mensch und Maschine durch Nanomaterial – letztlich führt das alles zu einer „Transhumanität als Möglichkeit sowohl der Intelligenzsteigerung als auch der Unsterblichkeit“. Noch ist manches reine Fiktion. Es sei in der Verantwortung der Wissenschaftler, „die Bevölkerung über realistische Möglichkeiten, Grenzen, Unklarheiten, Gefahren und ethische Bedenken dieser Technik zu informieren – auch auf die Gefahr hin, dass die Gesellschaft der Wissenschaft Grenzen setzt, um den mentalen Hausfriedensbruch zu verhindern.“ Man darf zweifeln ob solcher Grenzen des Machbaren, wenn es im Sinne von Macht und Gewinn ausnutzbar ist.
John-Dylan Haynes, Matthias Eckoldt: Fenster ins Gehirn. Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann. Ullstein Verlag, 298 S., geb., 24 €.