Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Endspiel Europa

Aufgeribbelt und neu gestrickt?

Ulrike Guérot und Haule Ritz prophezeien ein „Endspiel Europa“ und halten doch den europäischen Traum am Leben

Irmtraud Gutschke

Podcast: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173140.literatur-endspiel-europa.html

Europa als politisches Projekt wird derzeit aufgeribbelt wie ein Strickpullover.“ Und nicht nur das: Es wächst die Angst vor einem größeren europäischen Krieg, der auch uns einbezieht. Dass deutsche Panzer wieder einmal zum Angriff gen Osten rollen könnten, hätte sich niemand vorstellen können. Und jetzt wollen wir uns nicht vorstellen, welche Gegenreaktionen das vielleicht zur Folge hat. Über die in den Mainstreammedien weitgehend ausgeblendete Vorgeschichte dieses Konflikts kann sich informieren, wer immer das will. Publikationen des Westend Verlags, wo auch vorliegender Band erschien, seien da besonders hervorgehoben. Ulrike Guérot und Hauke Ritz schlagen einen größeren historischen und geopolitischen Bogen vor allem auch unter dem Aspekt der europäischen Gegenwart und Zukunft. 

So informativ wie meinungsstark beginnt das Buch: „‚U-kraine‘ heißt etymologisch so etwas wie ‚an der Grenze‘. Die Krim war in der Geschichte immer wieder ottomanisch oder russisch. Kiew, eine der ältesten Städte Europas, galt in Erzählungen als ‚Mutter der Rus‘. Odessa wurde später zu, kulturellen und religiösen Melting-Pot, wie die meisten europäischen Städte, sei es Prag, Triest oder Wien. Galizien, die Westukraine, also Lemberg, gehörte bis 1918 zum Habsburger Reich. Zitat: Die ‚geeinte ukrainische Nation mit anti-russischer Identität‘ ist eine mit enorm viel amerikanischem Geld geförderte Erzählung der letzten zehn Jahre.“

Dass heute vielerorts in Deutschland ukrainische Fahnen hängen, ist emotionale Parteinahme für ein überfallenes Land, das ausblutet in einem Konflikt, der allerdings nicht mit der russischen Militäroperation am 24. Februar 2022 begonnen hat. Und es sind eben nicht bloß Russland und die Ukraine, die einander gegenüberstehen. Deutschland, Europa, die ganze westliche Welt hat sich verbündet – nicht für die die Menschen in der Ukraine, sondern gegen Russland. Zitat: „Wie schnell das Friedensprojekt Europa, die EU, mithilfe einer sagenhaften Kriegspropaganda … zu einer Drehscheibe für den ‚Ringtausch schwerer Waffen‘ wurde, einem Zirkus gleich, kann  nur noch fassungslos, wütend und traurig machen.“

Um des lieben Friedens willen aus der Systemkonfrontation auszusteigen und den Kalten Krieg zu beenden – Michail Gorbatschow hatte das vor dem Hintergrund innerer ökonomischer Probleme wohl für eine ebenso humane wie mutige Idee gehalten. Und so jubelnd, wie er dann empfangen wurde auf der anderen Seite, glaubte er wirklich, den Friedensnobelpreis auch verdient zu haben. Doch der Zerfall der UdSSR wurde jenseits des Atlantik als eine Niederlage begriffen, die keinesfalls zu einem Sieg in dem Sinne werden durfte, dass auf dem europäischen Kontinent eine Friedensordnung ohne die USA entstand. Da wird zu Recht auf „Die einzige Weltmacht“ von Zbigniew Brzezinski verwiesen, der Russland 1997 verächtlich ein Nicht-Land nannte und sogar eine Teilung Russlands in drei oder vier Teile vorschlug. „Die Art und Weise, wie man Russland jede Partnerschaft verweigerte, erinnert an den Versailler Vertrag, mit dem nach dem ersten Weltkrieg vor allem Frankreich die dauerhafte Schwächung Deutschlands anstrebte.“ Ein starker Satz.

Wenn das „europäische Haus von Lissabon bis Wladiwostok“ nicht im Interesse der USA lag, so war eben auch Europa zu schwach und zu uneins, um auf eigenen Interessen zu bestehen. Erst 1992 war aus der EWG durch den Maastrichter Vertrag die Europäische Union geworden. Heute begreift man, wie wichtig das im geopolitischen Sinne war. Damals aber waren gerade viele Ostdeutsche durch diese neue Transformation verunsichert. Weil sie eben erst eine solche hinter sich hatten, zweifelten sie, ob ihnen das zunutze sein würde. Dass es eine Einigung im Sinne kapitalistischer Machtverhältnisse sein würde, war unsereinem ebenso klar wie die Schwierigkeit, so unterschiedliche Länder unter einen Hut zu bringen. Deutlicher gesagt: Um die Unterschiede im ökonomischen Entwicklungsniveau auszugleichen, hätten die reicheren Länder in gewissem Sinne für die ärmeren aufkommen müssen, wofür es im Inneren keine Zustimmung gegeben hätte.

Wie kann eine im Grunde nicht solidarische Gesellschaftsordnung nach außen hin solidarisch sein? Dass deutsche Interessen nicht mehr kongruent mit europäischen waren, wird im Buch zu Recht kritisch angemerkt. Was politisch notwendig gewesen wäre, wird in den Vordergrund gerückt. Die sozialökonomischen Realitäten geraten in den Hintergrund. Die Ironie gegenüber Deutschland, das seinen Wohlstand auch dem günstigen russischen Gas verdankte und „seiner neuen Liebe, dem Export mit China“, wie es heißt, „frönte“, scheint die Menschen hier zu vergessen.

„Europa plant die politische Union, die USA planen den nächsten Krieg“, heißt eine der Zwischenüberschriften. Eine „Republik Europa“ wäre ein stärkerer Gegenpol gegenüber den USA gewesen. sein können. Was aber auch anders hätte geschehen können. Denn Eliten kann man immer auch kaufen. Zitiert wird aus der „Wolfowitz-Diktrin“, das „Wiedererstarken eines neuen Rivalen, sei es auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion oder anderswo … zu verhindern“.  Verwiesen wird auf Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte:  „Die amerikanische Zivilisation würde… zur unumstrittenen Manifestation von Moderne und Fortschritt, globale Präsenz erlangen und wie eine ‚natürliche Ordnung‘ erscheinen.“ Das glaubte er wohl selbst, blind für die Widersprüche, von denen die USA immer stärker zerrissen sind.

Dass der Westen fortan „immer das Gute“ sei, wieviel Unglück hat dieser missionarische Auffassung über die Welt gebracht. Bis hin zu den zahlreichen Kriegen, die die USA seit 1990 geführt haben. Und „Europa  war zu gern ‚Lieb-Kind‘, als dass es geistig wie politisch durch eine konsequente politische Emanzipation eine „Mittelposition zwischen den USA und dem aufbrechenden Russland hätte einnehmen wollen“. Diese europäischen Gefügigkeit zeigte sich schon in den Jugoslawien-Kriegen, die von „157 US-amerikanischen Agenturen … durch PR-Strategien begleitet“ wurden. Der 11. September 2001 hatte dann eine gewaltige militärische Mobilisierung der USA zur Folge, mit dem Ziel, „die säkularen Regime in Irak, Syrien und Libyen zu entmachten, die sich einst an der Sowjetunion orientiert hatten“.

Weil Gerhard Schröder und Jacques Chirac den Einmarsch der USA in Irak 2003 skeptisch sahen, war in Washington von „Old Europe“ und „New Europe“ die Rede. Nachdem 1999 Polen, Tschechien und Ungarn in die NATO aufgenommen worden waren, waren es in einer zweiten Runde 2004 Bulgarien, Lettland, Estland, Litauen, Rumänien, die Slowakei und Rumänien. 2009 kamen Albanien und Kroatien, 2017 Montenegro, 2020 Nordmazedonien hinzu. In diesem Jahr trat Finnland bei, und Schweden ist bereit, seine jahrhundertelange Neutralität aufzugeben.  „So wurden die Osteuropäer zum trojanischen Pferd der USA in der EU.“ Ans politische Ruder kamen „junge, amerikanisierte Eliten mit Harvard- und Washington-Connections … Für sie waren die USA der unbestrittene Dirigent der europäischen Geschehnisse.“

Faktenreich das Kapitel zu den „Regime-Change-Operationen“ in Osteuropa. Nicht ernst genommen wurde Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Aber wenigstens wurde die Aufnahme der Ukraine und Georgiens auf dem Bukarest Gipfel 2008 wegen deutscher und französischer Bedenken vertagt. Vor diesem Hintergrund versuchte der georgische Präsident Michail Saakaschwili die abtrünnigen Republiken Südossetien und Abchasien zu besetzen, um die Chancen auf einen NATO-Beitritt zu erhöhen. Dass daraufhin die russische Armee für einige Tage in Georgien einrückte, darüber klagen manche Georgier bis heute. Die Vorgeschichte wird ausgeblendet, manche kennen sie vielleicht gar nicht. Im Grunde lehnt sich ja Selenskij an Saakaschwili an, wenn er seit 2014 die abtrünnigen Republiken Donezk und Lugansk beschießen ließ und sogar ankündigte, die Krim zurückzuholen. Aber auch die andere Seite hat aus den Georgien-Geschehnissen gelernt und die Ukraine über Jahre auf eine Weise hochgerüstet, wie es vielen hierzulande bis jetzt nicht bewusst ist, die ein kleines freundliches Land vor Augen haben, das von einem größeren überfallen wurde. David gegen Goliath sozusagen.

„Kriege fangen in der Presse an“, heißt ein ausgezeichnetes Kapitel im Buch. Zur Lektüre empfohlen auch die Seite 100, wo so knapp wie überzeugend die Tradition deutsch-russischer Beziehungen beschrieben ist. Da ist es aufschlussreich, wie Robert L. Hutchings, zu jener Zeit außenpolitischer Referent der Administration von Bush-Senior, in seinen im Buch zitierten Erinnerungen auf die Befürchtungen gerade gegenüber den Deutschen eingeht, dass sie sich in der Rolle eines Scharniers zu Russland sehen könnten. Wir mussten verhindern, dass die Deutschen „Vereinbarungen, die der gesamten Sicherheitsstruktur Europas zum Nachteil gereichen konnten“ akzeptieren. „Etwa einen Austritt aus der NATO oder zumindest die Verbannung von Atomwaffen von deutschem Boden“. Hutchings begleitete übrigens bereits im Februar 1990 den amerikanischen Außenminister Baker zu Gesprächen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, um deren Einverständnis mit der Osterweiterung der NATO zu sondieren. Man muss sich das vor Augen halten: Die UdSSR bestand noch, ebenso der Warschauer Vertrag, und bis zur deutschen Vereinigung waren es noch einige Monate. Wie konnte der sowjetischen Seite das entgehen?

Unter der Überschrift „Herzstück Ukraine“ ist im Buch detailliert die Entstehung und der Verlauf des  Konflikts zu verfolgen. Deutschland hat den als „Euro-Maidan“ getarnten Putsch zumindest geschehen lassen. „Zusammen mit den prowestlichen Gruppen im Zuge einer Demokratisierung stiegen auch radikale Gruppen wie der Rechte Sektor oder das Regiment Asow auf.“ Dass das Minsker Abkommen geschlossen wurde, nachdem im Februar 2015 etwa 5000 Soldaten des ukrainischen Militärs von den Volksmilizen der Republiken Donbass und Lugansk bei der Kleinstadt Debalzewo eingekesselt worden waren, ist mir nicht bewusst gewesen. Was mir damals als Friedenslösung erschien, war tatsächlich geschehen, um unter dem Druck einer militärischen Situation Zeit zu gewinnen, um die Ukraine militärisch aufzurüsten und die Soldaten nach NATO-Standards zu trainieren.

„Seit mindestens sechs Jahren also wird von amerikanischer Hand ein Krieg in Europa vorbereitet.“ Nüchtern betrachtet, müsse man sich wundern, „dass die russische Regierung überhaupt so lange stillgehalten hat.“ Ich kann hier nicht alles zitieren, aber verweise auf die Seiten 131 bis 140 mit geballten Informationen, die erklären, warum es zur russischen Entscheidung am 24. Februar 2022 gekommen ist.

Immer noch lebt in europäischen Köpfen ein Idealbild von den USA, das diese längst verlassen haben. Kulturell verbindet den Westen über den Atlantik hinweg nicht mehr viel. Und: „Wer die UN-Abstimmungen bezüglich der Ukraine verfolgt hat, konnte bemerken, dass der ‚Westen‘ in diesem Krieg keine Gefolgschaft hinter ich hat.“ Mit welchen perfiden Methoden des umgekehrten Totalitarismus in Europa schon längst regiert wird, wird auf den Seiten 156 bis 163 analysiert, die ich am liebsten hier abschreiben würde. Tatsächlich scheint es, als ob alle Fakten, Zahlen und Daten der Welt „nichts ausrichten können gegen Konditionierungen und Glaubenssysteme“.

Und dennoch endet das Buch mit dem kühnen Traum von einer EU, die zusammen mit Russland eine „föderalstaatliche Struktur auf dem Kontinent aufbauen könnte, die Europa tatsächlich Einheit, Friede und Prosperität sichert“. Da möge man nicht gleich abwinken, ist es doch ein Versuch, in großen Zeiträumen einfach mal ganz anders zu denken. „Der Ukraine-Krieg als europäische Katharsis“? Nichts bleibt, wie es war. Veränderungen stehen uns zweifellos bevor. Und der Wunsch genügt nicht, dass sie zum Guten sein mögen.

Ulrike Guerot, Hauke Ritz: Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können. Westend Verlag.
202 S., geb., 20 €.

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