Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Elke Heidenreich: Altern

In Schwingung kommen

Barbara Bleisch und Elke Heidenreich haben sich aufgemacht, die „besten Jahre“ zu erkunden

Irmtraud Gutschke

Immer mal wieder macht sie diesen Spaziergang zum „Schwarzen See“ im Schweizer Engadin, der, „eingerahmt von lichten Lerchenwäldern und dahinter schroff aufragenden Felswänden“,  seine Farbe vom Hochmoor bekommt. Sie erinnert sich, wie ihr als Kind, das hohe Gras an den Beinen kitzelte und wie später eine kleine Kinderhand in die ihre rutschte, „warm wie ein weiches Tier“. Inzwischen weiß sie sich in der „Mitte des Lebens“. Würde sie 80 Jahre alt (Elke Heidenreich, um die es hier ebenso gehen soll, ist 81), würden ihr 1560 Wochen bleiben. 

Wir dürfen uns eine schöne Frau vorstellen, erfolgreich zudem. Seit 2010 moderiert Barbara Bleisch die Sendung „Sternstunde Philosophie“ beim Schweizer Radio und Fernsehen, wurde 2020 zur Schweizer Journalistin des Jahres in der Kategorie „Gesellschaft“ gekürt, unterrichtet an den Universitäten Zürich, Luzern und St. Gallen und, und, und …

Dass einem beim Staunen angesichts einer schönen Landschaft die Dimension des eigenen Lebens in den Sinn kommt, dazu muss man wohl keine Philosophin sein. Aber das, was viele, sei es insgeheim, berührt, in fassliche Sprache zu bringen und in Zusammenhänge einzuordnen, ist eine Leistung der Philosophie. So beherzt, so persönlich, wie Barbara Bleisch das tut, gelingt ihr etwas Anregendes, Wohltuendes, ja auch Tröstendes. Aus der Masse diesbezüglicher Ratgeberliteratur hebt sich das Buch heraus allein schon durch seine Gedankenfülle. Also etwas für Leute, die sich nicht zufrieden geben können mit Ernährungstipps und Anti-Aging-Cremes. Wobei es bei Barbara Bleisch anders als bei Elke Heidenreich nicht um das Alter geht, sondern um eine „Philosophie der besten Jahre“. Passend dazu zeigt der Buchumschlag einen Berggipfel. Wer schon etwas erreicht hat, fragt sich, ob das genügt und auch, ob man eine Kursänderung vornehmen sollte, ehe es zu spät ist.

„Erst die Kürze des  Lebens zwingt uns offenbar zur Priorisierung und zum Nachdenken über einen sinnvollen biografischen Spannungsbogen, ansonsten ließe sich alles, was wir begehren oder erreichen wollen, stets von Neuem auf später verschieben.“ Das ist eine wichtige Feststellung im persönlich-existenziellen Sinne, wie auch in Bezug auf eine Gesellschaft, deren Zeittakt immer schneller zu werden scheint. So können die Jahre zwischen 40 und 60 auch von Überforderung geprägt sein, berufliche und persönliche Verpflichtungen irgendwie zu vereinbaren.

Da denke ich auch an jene Ostdeutschen, die als 40, 50, 60-Jährige in den 1990er Jahren nach dem Beitritt der DDR zur BRD aus ihrer Lebensbahn geworfen wurden, bestenfalls in den vorzeitigen Ruhestand oder in die Arbeitslosigkeit, die sich in ihren Biografien entwertet sahen und das bis heute nicht verwinden. Wie sich da manche einigeln in ohnmächtigem Groll, davon kann Barbara Bleisch nichts wissen. 1973 geboren, studierte sie nach 1990 und hatte Erfolg, obwohl bezahlte Arbeitsplätze in kreativen Berufen ja rar sind. Dabei vergisst sie (ebenso wie Elke Heidenreich) auch jene Menschen nicht, die durch tägliche Plackerei ausgelaugt und in wirtschaftlichen Schwierigkeiten, keinen Nerv für ihre Gedankengänge hätten, denen  überhaupt die Kraft zum Lesen fehlt. 

Es gehört zur Wirkung dieses Buches, wie ungemein sympathisch einem die Autorin gegenübertritt – klug und aufrichtig, ohne falsche Attitüde. Wissend um die Unterschiedlichkeit von Lebenswegen, geht sie Pauschalisierungen aus dem Weg, und doch bezieht man es auf das eigene Leben. Spricht über Vergänglichkeitsschmerz und Gehetztsein, wie sie zu jedem Alter gehören, Enttäuschungen, nicht verwirklichte Träume, die sogenannte Midlife-Crisis und die Leere, die sich auf dem „Hochplateau des Lebens“ breitmachen kann. „Was nun? Und wozu das alles?“

Da nimmt sie die Kehrseite unserer leistungsorientierten Rastlosigkeit in den Blick: die Schwierigkeit, im Augenblick zu leben. Dass Abhaken von Aufgaben, sie kennt es von sich selbst ebenso wie das Glück, sich ganz in eine Arbeit zu vertiefen. Ein Gefühl von Sinn, so meint sie, braucht indes den Blick über die eigene Person hinaus, auf die Welt um einen herum, die Verantwortung, die wir für andere Menschen übernehmen: Kinder, Eltern …

Zur „Fülle der Lebensmitte“ gehört somit auch der Gedanke der Vergänglichkeit: dass wir schöne Stunden nicht festhalten können, dass es uns eines Tages nicht mehr geben wird. Der Tod als Anlass alles Philosophierens wie auch der Religion: Dass man sich des Endes immer gewärtig zu sein möge, so zitiert sie den Renaissance-Philosophen Michel de Montaigne. Wirklich immer?

Und ich dachte beim Lesen an eine Freundin, die ihre Eltern gepflegt hatte. Nun sprach sie vom Freitod in der Schweiz, damit sie ihren Kindern nicht zur Last fallen würde, weil die das nicht verkraften. Aber dadurch hinterlässt du ihnen doch ein schlechtes Gewissen, protestierte ich, und hoffte, dass es nicht ernst gemeint war. Und denken muss ich auch daran, wie die Eigenanteile für Menschen in Pflegeheimen erneut gestiegen sind. Wie sollte man sich 2871 im Monat leisten – und würde man sich denn wohlfühlen, so entmündigt, wie man wäre?

Für Elke Heidenreich ist es klar: Sie würde im eigenen Haus wohnen bleiben mit ihrem Hund und hätte das Geld, eine private Pflegekraft zu bezahlen. Sie hat keine Kinder, aber sie könnte Barbara Bleischs Mutter sein. Normalerweise vermeide ich es ja, Bücher „über Kreuz“ zu lesen. Aber diesmal machte mir die Vorstellung Freude, zwei kluge Frauen über Altersunterschiede hinweg in angeregtem Gespräch zu sehen.  

Beide wissen sie um das Privileg, geistig tätig sein zu können. Elke Heidenreich, unter schwierigen Bedingungen in einem Pfarrhaus aufgewachsen, genoss ein aufregendes Leben mit häufigen Umzügen, verschiedenen Partnern, zuletzt mit einem 28 Jahre jüngeren Mann. „Ich altere mit Neugier.“ Bloß nicht wehleidig werden. „Life is work.“

Ihr Buch hätte ein Namensregister gut vertragen. Denn so  erfrischend persönlich es ist, entstand wie nebenbei eine große Zitatensammlung. Wer hat nicht alles über das Altern geschrieben! Als Literaturkritikerin hat Elke Heidenreich viel, woran sie sich halten kann. Wie sie sich jeden Morgen freute, an ihrem Essay weiterzuarbeiten, stellte ich mir vor. Selbstermutigungen wie ein Pfeifen im Walde. So viel Tapferkeit hat Barbara Bleisch noch nicht nötig.

Die Augen werden schlechter, Namen fallen einem nicht ein. „Siehe da, die Knie wollen nicht mehr. Ach, guck mal, ich höre mein Herz, war mir noch nie aufgefallen, dass das Herz so heftig schlägt, wenn ich mich beim Treppensteigen anstrenge. Ich  muss mich öfter mal setzen. Na und? Setz ich mich eben.“ Übung in Gelassenheit: Hab keine Angst raunt die Autorin uns zu. Es ist normal, man hält es aus.

Auch wenn die Welt „in einem miserablen Zustand“ ist. Elke Heidenreich ist politisch schärfer als Barbara Bleisch. An Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg, gegen die Stationierung von Atomraketen auf deutschem Boden, gegen die Notstandsgesetze erinnert sie sich. Und findet es „unerträglich, in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unsrigen Obdachlosigkeit zuzulassen“.  Was den Klimawandel betrifft, müsse das Umdenken bei jenen ansetzen, die „ausbeuten, verschmutzen, verdienen“.

Alterseinsamkeit, Altersarmut, Jugendkult, Diskriminierung, wenn ältere Menschen gegen ihren Willen in den Ruhestand geschickt, wenn ihnen Kredite verweigert werden, der doppelte Standard des Alterns bei Frauen und bei Männern – weit ausgreifend ins Gesellschaftliche ist dieser Essay und kommt dabei immer wieder im Persönlichen an. „Man kann sich natürlich auch in die Ecke setzen, stricken und die Katze streicheln.“ So soll es bei ihr nicht sein. „Ich kann noch denken. Ich kann noch lesen.“

Die „Seele baumeln lassen“? Unter keinen Umständen! „Die Seele hat man fest im Griff, sie ist unser Kostbarstes, da baumelt bitte nichts sinnlos herum.“ Da höre ich Barbara Bleisch widersprechen und Elke Heidenreich lachen: Na gut, mag die Seele ab zu in Schwingung geraten.

Dass wir in Schwingung kommen, ist auch der Lohn dieser Lektüre.  Verknöcherung und Verbitterung tun niemandem gut.

Barbara Bleisch: Mitte des Lebens. Die Philosophie der besten Jahre. Hanser, 272 S., geb., 25 €.

Elke Heidenreich: Altern. Hanser Berlin, 111 S., geb., 20 €.

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