Geflügelter Phallus und reitende Vulva
Irmtraud Gutschke
Dieses Buch wäre ein Weihnachtsgeschenk gewesen. Ich hätte es schon viel eher empfehlen sollen. Auf jeden Fall ist es ein Geschenkbuch, so prachtvoll wie es ist. „Liebe“ in goldenen Lettern über dem Gemälde „Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch. Ein dicker Kunstband mit unzähligen Abbildungen und zugleich eine ganz besondere Kulturgeschichte. Ein Buch zum Schmökern, spannend, voller überraschender Einzelheiten. Erfreulich: Liebesleidenschaften gab es immer. Die älteste Darstellung einer menschlichen Umarmung ist 11000 Jahre alt. Die Menschheit wollte sich fortpflanzen und sollte das auch. Aber Romantik entstand nicht erst mit der Romantik und schon gar nicht ist sie ein Vorrecht unserer Tage.
Der britische Autor und Dokumentarfilmer Edward Broke-Hitching – von ihm erschienen bei Knesebeck bereits „Atlas des Himmels“, „Der Atlas des Teufels“ und „Bibliothek des Wahnsinns“- hat sich schon immer für die exzentrischen Seiten des Lebens interessiert. Wie gut das beim Publikum ankommt, weiß er natürlich auch. Unglaublich viele Einzelheiten hat er zusammengetragen. Und vor allem weiß er, mitreißend zu erzählen. Das Schreiben muss ihm Spaß gemacht haben, was man auch merkt.
„Eine kuriose Geschichte in 50 Kapiteln“: Schon Homo Sapiens und Neandertaler haben sich geküsst und dabei Bakterien übertragen, was per DNA-Analyse nachgewiesen werden konnten. Wie viele unterschiedliche Liebesgöttinnen
und -götter wurden von unseren Vorfahren angebetet! Viele sind hier abgebildet. Brautpreis und Heiratsmarkt – was im alten Mesopotamien üblich war, gibt es in vielen Ländern noch heute. Und in der patriarchalischen Ordnung, das wissen wir auch, war die Frau in unterdrückter Position. Aber über all dem pragmatisch Geschäftlichen spannte sich seit jeher ein Himmel aus Legenden. Mitreißender Lesestoff.
Verklemmt und doch wieder gerade nicht – vieles, was einem hier vor Augen tritt, erscheint verwunderlich. Solche Freizügigkeit hat man nicht erwartet. Geflügelter Phallus und reitende Vulva als Abzeichen von Pilgern? „Was geht da vor?“ Auch dem Autor ist es rätselhaft. So viele erotische Darstellungen wie hier sah man noch nie gesammelt. Und so viele Seltsamkeiten! Eine Tote auf dem Thron, Skelette in inniger Umarmung, Zweikämpfe auf Leben und Tod, Ehebruch mit grausamen Folgen … Nie ermittelt wurde der Verfasser von „Harri’s List of Covent Garden Ladies“, ein Kompendium von 150 Seiten, das zwischen 1757 und 1795 alljährlich die rund 120 bis 190 Prostituierten detailliert charakterisierte. Beste Reklame. Wahrscheinlich ist der Autor ein Zuhälter gewesen.
Aderlässe gegen Liebeskummer, Casanovas Abenteuer, der schockierende Traum einer japanischen Fischersfrau, von Hokusai vorgeführt, Blumensprache und Heirat in einem Heißluftballon … Und ein äußerst respektables Register, wie es zu einem seriösen Sachbuch passt.
Ein Geschenk für wen? Würde der oder die Beschenkte darin nicht eine anzügliche Botschaft vermuten? Sollte ich dieses prächtige Buch nicht lieber selber behalten?
Edward Brooke-Hitching: Liebe. Eine kuriose Geschichte in 50 Kapiteln. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Knesebeck Verlag, 255 S., geb., 38 €.