Selbstverwirklichung in drückenden Schuhen
„Drei Frauen träumten vom Sozialismus“: Carolin Würfel porträtiert Maxie Wander, Brigitte Reimann und Christa Wolf
Irmtraud Gutschke
Was kann sie wissen von diesen drei Frauen, da sie doch über ein halbes Jahrhundert später geboren ist? Erstaunlich an diesem Buch ist, wie nah uns Carolin Würfel an ihre Seite holt. Mit ihr beobachten wir, wie die junge Brigitte Reimann sich einen Stuhl zum Lesen auf den Küchentisch stellt, während um sie herum die kleinen Geschwister toben, sehen sie im Krankenhaus, durch spinale Kinderlähmung bewegungsunfähig bis zum Hals, und überlegen, was diese Erfahrung wohl für ihr späteres Leben und Schreiben bedeutete. Wie da eine starke Persönlichkeit reifte, welche Kraft in ihr steckte von Anfang an, welche Lust, durchs Leben zu tanzen! Wir sind dabei, wie Christa Ihlenfeld mit 19 Jahren „Das siebte Kreuz“ liest, ohne zu ahnen, dass sie als Christa Wolf berühmt werden, und mit der bewunderte Anna Seghers 1965 durchs Ostasiatische Museum gehen würde. Aber nach der Zurückweisung ihrer Rede auf dem 11. Plenum war das für sie kein Trost. Wir erleben, wie Christa und Brigitte in einem Moskauer Hotelzimmer miteinander flüstern und später die eine bei der anderen am Krankenbett sitzt. Wie Maxie und Fred Wander im Schriftstellerheim in Petzow im Bett über die anderen Gäste der Villa reden, auch über Brigitte Reimann, „die alle irrsinnig schön und irrsinnig interessant finden“, während Maxie voller Selbstzweifel ist. „Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster stapeln sich Bücher und Papier, Briefe und Fotos … Auf dem Fußboden liegen Kleider, Socken, Unterhemden …“
In eindrucksvollen Szenen treten uns Menschen vor Augen, die heute nicht mehr am Leben sind, aber damals noch jung waren: Es sind allein schon die atmosphärische dichten Beschreibungen aus ihrem Leben, die dieses Buch so packend machen. Wie glänzende Fäden sich zu einem großen Teppich fügen, ist es Carolin Würfel gelungen, entlang ihrer Biografien die Lebensbilder dreier Schriftstellerinnen zu verknüpfen, die in der DDR zu literarischen Ikonen wurden. Vor ihrer Zeit. Wobei sie, wie sie im Nachwort bekennt, im Leipziger Westen von einer sozialistisch gesinnten Mutter, Tanten und Großmüttern umsorgt, mit Maxie Wanders Buch „Guten Morgen, du Schöne“ aufgewachsen ist. „Es war und ist ein Weckruf, eine Anleitung zu furchtlosem Leben.“ Für die Großmutter hatte es dazu beigetragen, dass sie ihre Töchter zu unabhängigen, emanzipierten Frauen erzog …, die sich wohl in ihrem Kopf und in ihrem Körper fühlten … Ich bekam das Buch zu meinem 17. Geburtstag geschenkt.“
Als die Mutter von ihrem Schreibvorhaben erfuhr, stellte sie ihr aus der Hausbibliothek eine Kiste mit Werken der drei Schriftstellerinnen zusammen. Auch Autobiografisches und Biografisches gibt es ja nicht wenig. Eine Zusammenschau ihrer Lebenswege aber existierte bislang noch nicht. Dabei besteht eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen und dabei auch mit einer Generation von Frauen, deren Jugend mit dem Ende des Krieges zusammenfiel. Nun sollte alles anders, besser, schöner werden. Vom Aufbruchsversprechen der DDR bis zu deren Verfall fand sich in ihrem Leben und Sterben gleichsam eine Parallele. Je größer die Hoffnungen, umso schmerzhafter die Enttäuschungen.
Wobei es im konkreten Fall auch um den literarischen Ehrgeiz ging, Eigenes in die Öffentlichkeit eines Staates einzubringen, der in der Folge des Zweiten Weltkriegs etabliert worden ist. Nach sowjetischem Muster und unter den Bedingungen des Kalten Krieges. So handelt das Buch immer wieder auch von den Mühen des Schreibens, von den Texten, die im Ringen um Selbstverwirklichung entstanden sind, von Jugenderwachen und schwierigem gesellschaftlichen Fortkommen, von einer Energie, von der ich meine, dass sie in dieser Generation stärker war als bei später Geborenen, die schon in ein gemachtes Nest fielen und, wenn sie flügge werden wollten, nach Abgrenzung suchen mussten.
Abgrenzung zum bürgerlichen Milieu der Väter, die NSDAP-Mitglieder waren –, für Brigitte und Christa ist dieses Motiv bestimmender als für Maxie, die in Verbindung zur KPÖ aufgewachsen war, sich indes zu Hause gegen die Ansprüche wehren musste, als Vorzeigekind zur bürgerlichen Aufsteigerin zu werden. Man liest von Schlägen, die sie erlitt und solchen, die sie austeilt. Wie ihr Mann besitzt sie in der DDR einen österreichischen Pass, ist privilegiert und in ihrem Hadern mit den Widersprüchen zwischen Ideal und Wirklichkeit von vornherein weltläufiger, freier. Die beiden hätten jederzeit gehen können und entschieden zu bleiben. Im Sozialismus sieht sie „eine unendlich langgezogene Front, die sich durch alle Länder, über alle Kontinente zieht. Naturgemäß gibt es an dieser Front Siege und Niederlagen, es gibt Offensiven und Stellungen, die einfach gehalten werden müssen, so sich unsere Abteilungen eingraben. Sie bauen Befestigungen und Kasematten, und darin versauern manche, weil die Zeit vergeht und nichts geschieht. Dort nisten sich Ratten ein und Mattigkeit und Aberglauben …“
Im Zusammenhang mit „Guten Morgen, Du Schöne“ kommt Carolin Würfel auf einen Begriff, den ich damals für mich so nicht gebraucht hätte, der aber wohl stimmig ist: Pragmatismus. „Viel mehr konnte man ja nicht tun, als sich in diesem sehr engen System so gut es ging einzurichten.“ Ständig zu klagen oder sich zu empören, nimmt dir die Kraft, so sehe ich es auch heute. Aber deine Energie verlierst du auch, wenn du deine Ideale über Bord wirfst.
Dieser Pragmatismus ist nicht mit Anpassung gleichzusetzen, sondern setzt eine bewusste, selbstständige Haltung voraus. Ein Durchschauen der Bedingungen, unter denen du lebst. „Die Schwierigkeit bestand vor allem darin, zu wissen oder zu erahnen, wo genau die Grenzen des Sag- und Schreibbaren gerade lagen, also wie weit man gehen konnte, bis man abrutschte.“ Was hier in Bezug auf Christa Wolf gesagt wird, hat auch heute seine Gültigkeit nicht verloren. Wer in der DDR das Durchschauen von Ideologie übte, dem sind dafür feine Antennen gewachsen. Dass Reimann und Wolf in der Aufbruchsatmosphäre ihrer Jugend politische Hardlinerinnen waren, es überrascht mich nicht. Sie vergaßen es, als sie später selbst mit Restriktionen in Konflikt gerieten und für ihren Mut belohnt wurden durch ein begeistertes Publikum.
„Berühmt wollen sie werden und glücklich“, heißt es über Brigitte Reimann und Siegfried Pitschmann, ihren zweiten Ehemann. „Wer bin ich in der DDR?“, fragte sich Christa Wolf. Gegen Ende des Buches widmet ihr Carolin Würfel ein glänzendes Charakterbild. Und an Brigitte Reimann schreibt sie sogar einen Brief wie an eine nahe Freundin. Da fehlen auch unbequeme Fragen nicht. Wie sie die drei Frauen, die da vom Sozialismus träumten, ganz und gar zu verstehen sucht, bewundere ich an ihrem Buch. Sie verlangt keine Rechtfertigungen von ihnen, wieso sie in dem westlichen deutschen Staat für sich keine Alternative sahen. In ihren drückenden Schuhen sind sie weitergelaufen. So absurd unangenehm das mitunter war, diese engen Schuhe „wurden nicht ausgewechselt und erst recht nicht weggeworfen“. Vielleicht, so wird Fred Wander zitiert, weil dieses Land „bei allen schweren Fehlern des Systems“ eine Hoffnung bedeutete „für Leute, die fest an eine humanistische Idee glaubten, auch wenn deren Erfüllung noch weit entfernt lag“.
Carolin Würfel: Drei Frauen träumten vom Sozialismus. Maxie Wander, Brigitte Reimann, Christa Wolf. Hanser Berlin, 270 S., geb., 30 €.