Dmitry Orlov über „die fünf Stufen des Zusammenbruchs und wie wir sie überleben“
Erst langsam, dann plötzlich
Von Irmtraud Gutschke
Reicht das Wort „Krise“ nicht zur Warnung? Muss es denn gleich „Kollaps“ sein? Etwas sperrt sich dagegen, weil man sich doch wünscht, dass alles einigermaßen gut weitergehen möge – auch über den eigenen Tod hinaus. Da hat uns Corona vielleicht die Augen geöffnet. Ein gesellschaftlicher Zusammenbruch wäre möglich, wenn nicht hier, dann anderswo. Wie dieser ablaufen könnte, dazu wird es längst Modelle in diversen Think Tanks geben. Wie er abzuwenden wäre, darüber wird inzwischen laut nachgedacht. Dem Autor dieses Buches ist klar, dass er polarisiert. Was für die einen heilsame Nüchternheit ist, wird von anderen als „negatives Denken“ abgelehnt, denn es raubt Energie für das Nächstliegende. Wie das Thema zum Ehekrach führen kann, hat Dmitry Orlov, so wie er es beschreibt, vielleicht gar selbst erlebt.
Zwischen lang- und kurzfristigem Denken gibt es einen psychischen Zwiespalt, den man bei der Lektüre immer wieder überwinden muss. Ist es nicht spekulativ? Sollte man nicht einen gewissen Optimismus dagegensetzen. Aber wer so mitreißend schreibt wie dieser Autor und Probleme so plausibel auf den Punkt zu bringt, wird Leser packen.
„Nationaler und transnationaler Bankrott geschieht, um Ernest Hemingway zu zitieren, ‚zuerst langsam, dann plötzlich’“. Ist uns das im tiefsten Innern denn nicht klar? Dürfen wir uns die Entmutigung durch derlei Ängste zugestehen? Andererseits, sollte man nicht gewappnet sein? Wie denn, etwa durch Säcke von Reis oder, wie lachhaft, massenhaft Toilettenpapier? Und nochmals andererseits: Stimmt es nicht, dass einem finanziellen Zusammenbruch ein kommerzieller folgt und unter Umständen sogar ein politischer, der in eine soziale und kulturelle Misere führt? Führen kann, denn auf jeder Stufe sind Gegenmaßnahmen möglich. Da ist es doch sinnvoll, dass man die Gefahren kennt. Und die Wurzel der Gefahren: „Wucher“, Gier nach Bereicherung einzelner. „Mit jedem Jahr werden immer größere Anteile des Kapitals in immer weniger Händen konzentriert, während gleichzeitig in vielen Teilen der Welt die Regierungen – die ultimativen Garanten der Eigentumsrechte, die solche Konzentrationen von Reichtum ermöglichen – immer schwächer werden. Sobald das politische Chaos Eigentumsrechte zu teuer macht, um sie zu verteidigen, wird der Wert dieses hochkonzentrierten Papierreichtums stark sinken.“ Aber das gehört bereits zu Phase vier des Zusammenbruchs, die wir uns bei aller Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen hin zu mehr Gerechtigkeit nicht wünschen wollen.
Dmitry Orlov, 1962 in einer Wissenschaftlerfamilie in Leningrad geboren, war 14, als seine Eltern mit ihm in die USA auswanderten. Er hat dort studiert, unter anderem am CERN in Genf gearbeitet und lebt inzwischen wieder mit seiner Familie in St. Petersburg. Dass er neben seiner Arbeit als Programmierer begann, gesellschaftskritische Bücher zu schreiben, hat mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und seinen Erfahrungen in den USA zu tun. Wie sich dort die Probleme durch Corona zuspitzen würden, konnte er noch nicht vorausgesehen, als er dieses Buch verfasste, aber auf seiner englischsprachigen Webseite cluborlov.blogspot.com beschäftigt er sich damit. Furchtloses Denken in großen Zusammenhängen – das hat man nicht so oft. Und auch auf Russisch ist er zu einem gefragten Interviewpartner geworden.
„Die westliche Zivilisation ist ein kaltes, entfremdetes Reich“, so Orlov. Dass immer mehr Menschen das Vertrauen in eine bessere Zukunft verlieren, steht am Beginn jenes Kollaps, den man von sich wegschieben will.
Dmitry Orlov: Die Lehre vom Kollaps. Die fünf Stufen des Zusammenbruchs und wie wir sie überleben. Aus dem Englischen von Mathias Bröckers. Reihe Brennende Bärte in der Edition Zeitpunkt, Solothurn, und im Westend Verlag Frankfurt am Main. 144 S., br., 15 €.