Der Fall der Mauer als tektonisches Beben
Radikal und illusionslos rechnet Daniela Dahn mit der deutschen „Einheit“ und den globalen Folgen ab
Friedliche Revolution? Wende? Wiedervereinigung? Umsturz? Wie nennt man das, was 1989/90 zur Abschaffung der DDR führte? Daniela Dahn: „Die Einheit war eine feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen. Für die Sieger war das schönste an der friedlichen Revolution, dass sie nichts revolutionierte. Das Neue bestand darin, den alten Spielregeln beizutreten.“– Wie ihre bisherigen Bücher lebt auch das jetzt erschienene von scharfen, präzisen Formulierungen, die beim Lesen eine Kraft erzeugen, zu der man sich verhalten muss. Kein Zweifeln und Fragen. Was andere lieber sprachlich umschleichen, um nicht in die Fettnäpfe des Zeitgeistes zu treten, bringt Daniela Dahn furchtlos auf den Punkt. Ablehnung riskiert sie und kann jubelnder Zustimmung gewiss sein.
Vor allem im Osten natürlich, wo sich ein Frust ausgebreitet hat, der die Seelen vergiftet. Nach 30 Jahren Mauerfall gibt es ein Bedürfnis, Resümee zu ziehen. Obwohl auch im Westen immer mehr Menschen das Schwinden sozialer Sicherheit beklagen, scheint die Empörung auf einstigem DDR-Gebiet größer. Klar, man hatte es schon einmal anders gekannt. „Die absolute Mehrheit ist mit der Wirtschaftsordnung und der dieser untergeordneten Demokratie unzufrieden“, resümiert Daniela Dahn. Das betrifft nicht nur die Älteren. Auch die Jugendlichen „haben sich ein kritisches Bewusstsein bewahrt, bedingt durch die eigene Nachwendeerfahrung und die ihrer Eltern“. Es sei ein „Grundmissverständnis zwischen West und Ost…, dass die eine Seite dachte, sie gibt ihr Letztes, während die andere meinte, man nähme ihr das Letzte“.
Aber die DDR-Bürger hatten am 18. März 1990 immerhin die Wahl. Die „Wahlhilfe“ aus der BRD entlastet sie nicht von Verantwortung. Wer damals der Allianz für Deutschland die Stimme gab, hoffte auf künftigen Wohlstand. Das Versprechen auf Konsum- und Bewegungsmöglichkeiten sollte bereits mit der Währungsunion eingelöst werden. Diese ist unter Umgehung des Parlaments, sogar über den Kopf von Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl hinweg, beschlossen worden (Daniela Dahn hat mit ihm drei Jahre später ein ausführliches Gespräch geführt). DDR-Bürger, die sich über das Westgeld freuten, ahnten nicht, dass bald 95 Prozent des volkseigenen Wirtschaftsvermögens in westliche Hände übergehen würden. Die Zahl der bundesdeutschen Millionäre habe sich auf über eine Million verdoppelt, ist zu lesen „während im Osten mit der ersehnten D-Mark die Zahl der Arbeitslosen von null auf vier Millionen stieg“.
Die Treuhand, schreibt Daniela Dahn, „hat eine Gegend zurückgelassen, die aus eigener Kraft weniger lebensfähig war als zuvor… Oft genug wurden Betriebe dichtgemacht, die vollkommen intakt waren, aber als ökonomische oder kulturelle Konkurrenten störten.“ Zur Umverteilung großen Ausmaßes kam die Kränkung: Westimporte des Führungspersonals, Evaluierungen, Abwicklungen, Bevorzugung von Westeigentümern nach dem Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ und bei Ostdeutschen Angst vor Besitzverlust, Verteufelung des DDR-Erbes und Entwertung von Biographien. Was alles gegen die DDR-Kultur in Stellung gebracht worden ist, überlege ich, von der ideologischen Diffamierung bis hin zum Karneval einer vermeintlich oppositionellen Unterhaltungsindustrie.
Daniela Dahn ist nicht die einzige, die beklagt, dass es keine Vereinigung nach Artikel 146 mit Ausarbeitung einer neuen Verfassung war, sondern ein Beitritt „in ein bereits krisenhaftes System“. Aber ist es nicht ein abgekartetes Spiel gewesen? Die Autorin verweist auf ein Fernsehinterview mit Helmut Kohl, in dem er sich damit brüstete, „dass die ungarische Führung, der auf einem Geheimtreffen in Bad Godesberg ‚enorme wirtschaftliche Hilfen‘ zugesagt wurden, den Zeitpunkt der Öffnung der Grenze für DDR-Bürger auf die Minute nach Kohls Wunsch getimt hatte. Pünktlich zur Eröffnung des CDU-Parteitages, auf dem er, wie er wusste, wegen seines angeschlagenen Images gestürzt werden sollte, verkündete er die Erfolgsmeldung….“
In aller Ausführlichkeit behandelt wird das Thema Antifaschismus in beiden deutschen Staaten. Detailliert argumentierend tritt Daniela Dahn dabei auch der Behauptung entgegen, dass Juden und Holocaust in der DDR ein beschwiegenes Thema waren. Dagegen listet sie auf, wie NS-Täter in der BRD, allen voran Hans Globke, zu Amt und Würden kamen. In dieser Folge beobachtet sie auch heute „rechtslastige Signale aus allen staatlichen Institutionen.“ Eine antifaschistische Klausel im Grundgesetz mehrfach abgelehnt worden. Zum ersten Mal las ich von einem ins Bundesversorgungsgesetz übernommenem Führererlass, der ausländischen Freiwilligen bei der SS Versorgungsleistungen wie den Wehrmachtsangehörigen zuspricht. „Bevor der Rechtsextremismus die Mitte der Gesellschaft erreicht hat, kam er aus der Mitte des Staates. Der Antifaschismus war in der Bundesrepublik nie Staatsraison.“ Anders als die DDR hat die BRD eben nicht radikal mit jenen Klassenkräfte gebrochen, „die hinter dem deutschen Faschismus standen“.
Dass „der sogenannte Mauerfall eine tektonische Erschütterung des ganzen Globusses war“, hätte einem eigentlich damals schon klar sein können. Doch mit Gorbatschow hofften viele, dass ein Rückzug im Kalten Krieg (was es seitens der UdSSR ja war) die Welt letztlich friedlicher machen würde. Das Gegenteil trat ein. Nicht nur, dass „die weltweiten Rüstungsausgaben um fast 80 Prozent gestiegen“ sind, die Zahl der mit Waffen ausgetragenen Konflikte nahm rapide zu. Der Irak-Krieg, der „Krieg gegen den Terror“ in Folge der Anschläge vom 11. September, der von der CIA erstmals 1967 im Zusammenhang mit dem Kennedy-Attentat in Umlauf gebrachte Begriff „Verschwörungstheoretiker“, der bis heute jeden Zweifler diffamiert, Jemen als „schlimmste Leidenszone der Welt“, der Angriffskrieg gegen Jugoslawien“, der Aufbau der serbischen Oppositionsgruppe „Otpor“ als Rezept für alle farbigen „Revolutionen“, die US-amerikanische Wahlkampfhilfe für Boris Jelzin, der Ukraine-Konflikt… Zu allen Themen hat Daniela Dahn eine Unmenge von Fakten recherchiert. Dass seit 2002 4,6 Millionen Hektar Schwarzerde in der Ukraine an multinationale Unternehmen überschrieben worden sind (gerade kündigte Präsident Selenskyj weiteres an), dass dort in Größenordnungen genmanipuliertes Saatgut produziert und eingesetzt wird, dass tierschutzwidrige Mega-Farmen entstanden sind, ich wusste es bislang nicht. Die schönen grünen Bestrebungen auf unserer Wohlstandsinsel verdecken, welche Verbrechen gegen die Umwelt anderswo begangen werden.
„Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“ – der meinungsstarke Titel lässt keinen Raum für Illusionen. „Mit der Mauer war jegliche Zurückhaltung der Sieger gefallen.“ Eine starke These ist schon der erste Satz. „Ein Prozent hyperreiche Haushalte verfügen über ein Drittel des volkswirtschaftlichen Gesamtvermögens. Die Quittung für soziale Kälte und politisches Versagen ist die AfD.“ Schon immer habe ich mich gewundert, dass Rechtspopulisten nicht nur bei den Linken, sondern auch seitens der Macht im öffentlichen Diskurs so geächtet erscheinen. Heute verstehe ich: Genau das nutzt ihrem Image als Trotzpartei. Für Krisenfälle stünden sie bereit, um demokratisch legitimiert, im Dienste des Kapitals demokratische Freiheiten abzubauen. Denn, wie ließ schon Goethe sein Gretchen sagen: „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles. Ach, wir Armen!“
Wir wollten eine andere Gesellschaft. Es ist misslungen.
Daniela Dahn: Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Eine Abrechnung. Rowohlt., 287 S., br., 16 €.