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Was wirklich wichtig ist
Christian Uhle auf der Suche nach dem Sinn des Lebens
Von Irmtraud Gutschke
Dieses dicke Buch rief schon lange nach mir von meinen Bücherbergen. „Wozu das alles?“ heißt es. Wer hat sich diese Frage nicht schon gestellt? „Eine philosophische Reise zum Sinn des Lebens“ wird versprochen – und das von einem ganz jungen Mann. Philosophen stellt man sich ja gemeinhin alt und weise vor. Aber Christian Uhle ist Jahrgang 1988. Auch schon 34, könntet ihr sagen. Aber er hat, wie er im Vorwort schreibt, schon mit 16 begonnen, darüber nachzudenken, wie im übrigen viele junge Menschen, er aber hat seine Gedanken aufgeschrieben: „Wozu sind wir auf der Welt? Was ist wirklich wertvoll und wichtig im Leben?“ Und er gibt auch gleich zu, dass er in dieser Zeit unglücklich verliebt war und ihm alles irgendwie wertlos erschien.
Es ist dieser persönliche, aufrichtige Ton, der mir dieses Buch so wertvoll macht, dieses Fragen, das immer auch mit der eigenen Person zu tun hat. Philosophie stellt man sich ja häufig als etwas Abgehobenes vor, und so wird sie auch nicht selten betrieben. Ich kann mir vorstellen, dass Christian Uhles Lebensphilosophie in der Fachwelt auch belächelt wird. So ging es ja auch dem viel älteren Wilhelm Schmid, der eine ganze Reihe populärer Bücher bei Suhrkamp veröffentlicht hat. Im Sinne von Lebenshilfe sehe ich eine Beziehung zwischen beiden. „Philosophie kann heilsam sein“, meint auch Christian Uhle. Aber bei ihm ist das Fragen stärker, das Ausloten, Überlegen. Dass er eine engagierte, junge Philosophie verkörpern würde, heißt es aus dem S. Fischer Verlag. Und das ist das Bezaubernde: der Blick auf die Welt eben mit den Augen eines jungen Menschen, der noch viel vor sich hat, der uns auf einen Gedankenweg mitnimmt, der noch längst nicht an ein Ende kommt.
Sechs Jahre hat er an diesem Buch gearbeitet, eben auch, um die „eigenen Wünsche und inneren Konflikte, die Zweifel und Erfahrungen im Alltag besser zu verstehen – und sich dadurch leichter in der Welt orientieren zu können.“ Sein Buch lesend fühlt man sich ins Gespräch gezogen über die großen Fragen des Lebens: über seine Endlichkeit, über Sinn und Glück – das sind ja zwei verschiedene Ebenen, über Moral, über Fortschritt und Selbstverwirklichung, Liebe, Sehnsucht, Verbundenheit, Einsamkeit.
Und das ist nicht nur so ein Dahinlabern. Der Autor will bei allem auch wissen, was andere Philosophen dazu gesagt haben. Von Aristoteles bis Hannah Ahrendt, die ganze Philosophiegeschichte rückt mit ins Bild, dazu auch literarische Werke, Filme. Und es ist wirklich erstaunlich, wie unterhaltsam das hier dargeboten wird. Christian Uhle weiß mit Sprache umzugehen, die er ohne alles Hochtrabende zu größtmöglicher Genauigkeit bringt. An diesem Text, so eingängig er sich liest, ist konzentriert gearbeitet worden.
Immer hat der Autor die konkreten Bedingungen heutigen Lebens im Blick: die neoliberale Forderung, dass jeder seinen Glückes Schmied sein solle, die Arbeitsverdichtung, die Konkurrenzverhältnisse. Das Buch ist keine Kampfschrift zur Veränderung der Verhältnisse, wenngleich der Autor diese kritisch zu durchschauen in der Lage ist. Die „Welt zu einem besseren Ort zu machen“, hält er für ein wichtiges Ziel. Aber hauptsächlich widmet er sich der Frage, wie man in dieser Welt ein sinnvolles Leben führen kann.
Aus seiner Sicht eher nicht im Streben nach immer Mehr, zumal sich erwiesen hat, dass uns Fortschritt nicht zu mehr Freiheit verholfen hat und schon gar nicht zu mehr freier Zeit. Freilich weiß er auch: „Die atemlose Flucht nach vorne hilft uns, die eigene Sterblichkeit zu vergessen.“ Und doch muss die in den westlichen Gesellschaften dominante „Grundstruktur des Nach-vorne-Strebens“ in Frage gestellt werden.
Christian Uhle durchschaut, wie unsere Lebensverhältnisse im Grunde durch eine profitorientierte Wirtschaft bestimmt sind und dass gerade anstrengende und unverzichtbare Jobs schlecht bezahlt sind. Seine grundsätzliche Kritik an herrschenden gesellschaftlichen Strukturen geht aber einher mit Überlegungen, wie man in diesen Strukturen leben kann. Sich dafür geistig frei zu machen, hilft dieses Buch. „Der Mensch spielt nur, wo er in Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch wo er spielt“ heißt es bei Friedrich Schiller. Entsprechen will Christian Uhle die Sinnhaftigkeit des Lebens vor allem auch in dessen Gegenwart begründet sehen.
Erfüllende Arbeit? Und wenn es nicht so ist? „Nur 15 Prozent der Beschäftigten in Deutschland sind emotional voll bei der Sache, fast sechs Millionen haben innerlich bereits gekündigt.“ Im Verzeichnis „Quellen und Erläuterungen“ (44 eng bedruckte Seiten) kann man lesen, dass sich die volkswirtschaftlichen Kosten dieser schlechten emotionalen Bindung laut „Gallup Engagement Index Deutschland“ auf 105 bis 122 Milliarden Euro jährlich belaufen. Die Studie stammt von 2019. Inzwischen dürfte es – nicht zuletzt durch Corona – noch schlimmer geworden sein.
Authentisch leben? Das kann „nicht bedeuten, völlig unbeeinflusst von äußeren Faktoren zu ein, das geht gar nicht. Sondern es heißt, sich innerhalb des sozialen Gefüges selbstbestimmt zu positionieren. Dafür braucht es Mut und Demut: Mut, sich abzugrenzen und eigene Standpunkte zu finden. Demut, weil wir dies niemals ganz alleine können. Aufklärung kann nur als gemeinschaftliches Projekt gelingen.“
Es ist eine ganz auf die Menschen gerichtete Philosophie, die sich immer wieder auch mit Psychologie verbindet. „Die Kunst, das Vaterland, die Philosophie, nichts davon hat einen Wert – außer es hat einen Wert für Lebewesen.“ „Sinn entsteht durch Beziehungen; ist nicht in dir oder in mir, sondern stets zwischen uns.“ Liebe, Freundschaft, Dialog mit anderen Menschen, Beziehungen zu Tieren und überhaupt zur natürlichen Umwelt, sich von der Welt berühren zu lassen, Musik, Tanz. Aber auch die Reibung gehört dazu. Dies ist kein Buch nach dem Motto „Take it easy, be happy“, der Autor verschließt sich dem Widersprüchlichen nicht. Im Gegenteil, er lässt sich davon inspirieren. Weil er eben auch selbst das Krisenhafte kennt, ja weil dies, wie gesagt, sogar der Ausgangspunkt für seine philosophischen Studien ist. „Ob in der Bibel, der Naturromantik, den Sozialwissenschaften oder im Nationalismus – Erfahrungen von Getrenntheit, Fremdheit und Vereinzelung werden häufig als Verlust gedeutet.“ Interessante Perspektive. Können auch Denken und Sprache uns von der Welt trennen? Und ob! „Wenn ich Baum unter Bäumen wäre, Katze unter Tieren, so zitiert er Camus, „dann hätte dieses Leben einen Sinn oder vielmehr: dieses Problem bestünde überhaupt nicht, denn ich wäre ich ein Teil dieser Welt.“
Aber wir können nun mal nicht rein leiblich leben und sollten Spüren und Denken nicht in Konkurrenz sehen. Und wie ist es mit der Wahrheit? Mit der Erfahrung des Mystischen? Was macht die Spätmoderne mit uns? Natürlich hat Christian Uhle auch Andreas Reckwitz gelesen. Wie würden sinnvolle Visionen aussehen?
Ich könnte noch lange schwärmen von diesem dicken Buch. Was nicht allen gegeben ist, dieses wird den Weg von meinen Bücherbergen in meine übervollen Buchregale finden wird, auch wenn ich anderes aussortieren muss.