Willkommen in meinem Literatursalon
Irmtraud_Gutschke

Lesen macht glücklich, weil es uns sagt, wer wir sind und wer wir sein wollen, weil wir über uns hinauswachsen, in fremder Haut erleben dürfen, was uns sonst verschlossen bliebe. Heutzutage scheinen wir ja in Informationen zu ertrinken und haben doch das Gefühl, dass uns Wichtiges fehlt. Was ich suche, sind Bücher, die in diesem Sinne nachdenklich machen, ja auch solche, von denen ein Leuchten ausgeht. Viele Jahrzehnte habe ich als Literaturredakteurin mit Hunderten, ja Tausenden von Texten zu tun gehabt, auch selber Bücher geschrieben. Die Neugier auf Neues will ich hier mit anderen teilen.

„literatursalon.online“: Stellen Sie sich vor, wir sind zusammen in einem schönen Saal, und Sie möchten von mir wissen, was sich zu lesen lohnt. Was interessiert Sie denn, frage ich zurück. Politische Sachbücher? Gute Romane und Erzählungen? Spannende Krimis? Bildbände, die man immer wieder betrachten möchte? Mit meiner Auswahl lade ich Sie zu Ihren eigenen Entdeckungen ein.

Irmtraud Gutschke

Wenn Sie mehr über mich erfahren wollen - meine Biografie, meine Bücher und Veranstaltungen - , schauen Sie auf meine Webseite www.irmtraud-gutschke.de

Carsten Gansel: Kind einer schwierigen Zeit

Leben als ein Trotzdem

Das Trauma des Krieges und die Kraft des Erzählens: Der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel hat ein spannendes Buch über „Otfried Preußlers frühe Jahre“ veröffentlicht

Kinder seien für Otfreid Preußler (1923-2013) ein „ganz besonderes Publikum“  gewesen, schreibt Carsten Gansel. Eins, das sich „nicht manipulieren“ und „für dumm verkaufen“ lasse und das keine gelenkten Lesetrends kennt, „keine Bestsellerei“. Wobei Preußler selbst Bestseller gelangen: über 30 Bücher, in 55 Sprachen übersetzt und millionenfach verkauft. „Der kleine Wassermann“, „Die kleine Hexe“, „Der Räuber Hotzenplotz“ „Das kleine Gespenst“ sind mittlerweile Klassiker.

Sein großer Roman „Krabat“ (1971), an dem er 15 Jahre gearbeitet hat, war dort, wo er spielt, bei Erscheinen kaum präsent: in Deutschlands Osten. In der DDR wurden die Jugendbücher von Jurij Brězan gelesen, der sich mit „Die schwarze Mühle“ (1968),  „Krabat oder Die Verwandlung der Welt“ (1976) und „Krabat oder Die Bewahrung der Welt“ (1993) ebenfalls diesem sorbischen Sagenstoff aus der Lausitz zuwandte. Erst nach 1989 wurden die Preußler-Bücher im Osten, wo Lizenzen Devisen gekostet hätten, populär.    

Ottfried Preußler, wurde 1923 in Reichenberg, heute Liberec, geboren. Zuerst hieß er Otfried Syrowatka, bis sein Vater, Josef 1941 seinen Nachnamen gegen den seiner Großmutter tauschte. Es war auch der eines berühmten Kupferstechers, eines ihrer Vorfahren. Sein Vater war ein  leidenschaftlicher Heimatforscher und machte ihn mit lokalen sagen vertraut, was er später die „Macht des Geschichten-Erzählens“ nannte.  Wohl erstmals wird hier seinem Schicksal nachgegangen, das eng mit dem Problem der Sudetendeutschen und ihrer Ausgrenzung in der Tschechoslowakei nach 1945 zusammenhängt.

Für Carsten Gansel ist Otfried Preußler „Kind eienr schwierigen Zeit“, wie er dessen „frühe Jahre“ betitelt hat. Ihm ist dabei ein großes, bewegendes Gesellschaftsbild gelungen. Denn Preußler steht für eine ganze Generation junger deutscher Männer, deren bis dahin friedliches Leben einen jähen Bruch erfuhr, als sie in einen mörderischen Krieg geworfen wurden, dem sie sich persönlich kaum widersetzen konnten. Da stellt sich für Carsten Gansel auch ein Bezug zu anderen Schriftstellern her: Franz Fühmann, Johannes Bobrowski, Erich Loest, Dieter Wellershoff, Erwin Strittmatter, Günter Grass … Kurz nach dem Abitur wurde Preußler 1942 zum Militärdienst eingezogen. Mit nicht mal 20 Jahren war er als Leutnant für eine Einheit  verantwortlich und fühlte sich unter großem Druck.

Carsten Gansel – 1955 in Güstrow geboren – ist Literaturprofessor an der Universität Gießen. Er hat einmal die Archivarbeit als Königsdisziplin der Literaturwissenschaft bezeichnet. Erkunden, was wirklich gewesen ist, statt nur immer wieder neue Interpretationen aneinander zu reihen. Auf diese Weise hat er schon mehrere sensationelle Funde gemacht. Dabei kam ihm seine Kenntnis der russischen Sprache zugute. So hat er die Urfassung des Romans „Durchbruch bei Stalingrad“ von Heinrich Gerlach, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft entstanden war, sowie dessen „Odyssee in Rot“ hat er in russischen Archiven ausfindig gemacht. „Wir selbst“ von Gerhard Sawatzky über die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen war seine Entdeckung.

Als er im Russischen Staatlichen Militärarchiv in Moskau auf der Suche nach Gerlachs Roman war, stieß er auf die Kriegsgefangenenakte von Otfried Preußler. Was für ein Fund: Neben biographischen Details waren darin auch literarische Texte zu entdecken, die nun in diesem dicken Band nachzulesen sind, zusammen mit späteren, mit denen der Autor für sich die „Schleusen des Gedächtnisses“ öffnete, wie er es nannte.

 Das Schweigen der Väter – Nachgeborene jener Kriegsgeneration haben es oft nicht verstehen können. Da erinnere ich mich an den Literaturstreit um Erwin Strittmatter, von dem es hieß, er habe seine schlimmen Erlebnisse während des Krieges verschwiegen, seine Wirklichkeit literarisch „poetisiert“. Dieses Buch von Carsten Gansel lesend, begreife ich: Es ist keine Ausnahme, sondern der Normalfall, dass die persönlichen Erfahrungen so verstörend, die Erinnerungen so schmerzhaft waren und das Gedächtnis sich dagegen wehrte. Zumal in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem mörderischen Krieg gerade auch im Osten ein Schatten auf die Männer fiel, die daran teilgenommen hatten. Als Täter wurden sie gesehen, die etwas wiedergutzumachen hatten. Dass sie ebenso auch Opfer gewesen sind, diese Erkenntnis brauchte Zeit.

Carsten Gansel zitiert in diesem Zusammenhang den Neurophysiologen Hans J. Markowitsch, dem zufolge unser Gehirn „permanent“ ordnet, gewichtet und unterdrückt, „was uns das Überleben erschwert“. Im Alter aber würden die „hemmenden Netzwerke immer löchriger, das Gedächtnis verliert zunehmend Kapazität, die verdrängten Erinnerungen zu zähmen“.

Wie für Preußler die Erinnerungen zurückkamen und was er wirklich erlebte, formt sich hier zu einer beeindruckenden Geschichte. Carsten Gansel war im tatarischen Jelabuga, wo bekanntlich die russische Lyrikerin Marina Zwetajewa 1941 zusammen mit ihrem Sohn die letzten Tage ihres Lebens verbrachte, bevor sie Suizid beging, und wo es bereits vor dem Ende der Schlacht um Stalingrad ein Kriegsgefangenenlager gab. Er schildert, wie Preußler dort ankam und wie eine sowjetische Ärztin sich im Lazarett freundlich um ihn kümmerte. „Mein Gott, wie Sie aussehen, bloß noch Haut und Knochen!“ Der junge Mann leidet an Dystrophie, den Folgen chronischer Unterernährung, die zu Depressionen  und Gedächtnisschwund führen. Auf einem der zahlreichen Fotos kann man Dr. Wolkowa, umgeben von Schwestern und Pflegerinnen des Lazaretts sehen.

„Mit der Gefangennahme und der Verbringung in ein Lager befinden sich die Gefangenen in einer Art Schicksalsgemeinschaft“, schreibt Carsten Gansel. „Kameradschaft“ sei somit sehr wichtig gewesen. Andererseits gehörte es für Menschen wie Preußler zu den schlimmsten Belastungen, dass du „niemals für dich allein sein konntest“. Für Preußler, der dann Ende August 1945 ins sogenannte Silikatlager nach Kasan kam und dort in einer Ziegelei sowie beim Transport arbeitete, aber auch als Wandzeitungsredakteur und bei einer Theatergruppe, wurde das Schreiben existenziell bedeutsam.

„Literatur – das ist ein anderes Wort für Ausweg“, hat Hermann Kant einmal gesagt, der, drei Jahre jünger als Preußler, nur sechs Wochen an der Front war und dann vier Jahre erst im Zuchthaus, dann in einem Lager auf dem Boden des Warschauer Ghettos. Auch er brauchte Jahre, um sich in seinem bedeutendsten Roman „Der Aufenthalt“ dieser Zeit literarisch zuzuwenden. 

Der Umschlag von Carsten Gansels Buch zeigt einen Vogel, der sich über Stacheldraht erhebt. Als Otfried Preußler aus dem Lager entlassen wurde, hatte er Glück: Er fand seine Familie wieder und auch die geliebte Frau.

Carsten Gansel nennt ihn einen „wahnsinnig fleißigen Menschen“, der irgendwie Geld verdienen musste, aber immer auch schreiben wollte. Der große Erfolg kam allerdings erst mit der Hinwendung zu Kinder- und Jugendliteratur. Indem er sich auf die glückliche Kindheit besann, auf die Sagen und Märchen, die er damals in sich aufnahm, konnte er in seiner Seele gesunden. All die märchenhaften Zauberwesen, die er zum Leben erweckte, sie halfen ihm mit ihrem Witz und ihrer Eigenwilligkeit.

Leben als ein Trotzdem – mochten manche Erwachsene ihm auch Flucht in die Phantasie vorwerfen, die Kinder liebten ihn. Und „Krabat“ war für ihn auch er Romans seiner Generation, dessen Hauptfigur mühsam lernt, „Nein“ zu sagen. Gansels spannendes Buch führt uns nun erstmals vor Augen, dass Otfried Preußler nicht einfach der freundliche Märchenonkel war, der er lange schien.

Carsten Gansel: Kind einer schwierigen Zeit. Otfried Preußlers frühe Jahre. Galiani Berlin, 558 S., geb., 28 €.

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