„Niemand lauscht. Jeder produziert sich.“
Byung-Chul Han bietet mit seiner inspirierenden Zeitanalyse ein Verständnis dessen, was Leben ausmacht
Irmtraud Gutschke
Wir wissen es ja alle selber: dass wir zu eilig leben, dass alles an uns vorüberrauscht und unbefriedigt zurücklässt. „Handlungen verkürzen sich zu Reaktionen, Erfahrungen zu Erlebnissen. Wir haben keinen Zugang zur Wirklichkeit, die sich allein einer kontemplativen Aufmerksamkeit erschließt.“ Byung-Chul Han, so vermutet man beim Lesen, hat einem da einiges voraus. Und man bewundert den 1959 in Seoul geborenen Philosophen dafür, der auch schon über Zen-Buddhismus geschrieben hat und über die Freude, die ihm sein Garten bereitet. Aber beim Schreiben wird es mir wohl so gegangen sein wie mir, nach der mein Garten jetzt vergeblich ruft. Man tut das eine und muss das andere lassen.
Für dieses Buch hat er sich bei vielen Philosophen umgetan: Heidegger, Benjamin, Nietzsche. Fast will es scheinen, dass diese dem Heraufziehen jener Hast und Müdigkeit umso klarsichtiger widersetzten, weil sie noch nicht davon so umschlossen waren wie wir heute. So wie wir darunter leiden, gar krank werden dadurch, sind wir gleichzeitig Unterworfene, Ausgenutzte. „Der Zwang zur Tätigkeit, ja zur Beschleunigung erweist sich als effizientes Herrschaftsmittel“, schreibt Byung-Chul Han. „Wenn heute keine Revolution möglich zu sein scheint, dann vielleicht deshalb, weil wir keine Zeit zum Denken haben. … Der Freigeist stirbt aus.“
Lesen wenn man endlich Freizeit hat? Die Kraft reicht vielleicht nur noch für eine Netflix-Serie. In seinem Buch „Die Müdigkeitsgesellschaft“ hat der Autor bereits nachdrücklich auf dieses Problem hingewiesen: Erschöpfung nicht nur durch den Zwang zur Selbstoptimierung und die damit verbundene Frustration, sondern selbst durch das, was uns eigentlich entspannen sollte. Mit Konsum und „Freizeitaktivitäten“ kommen wir doch nicht aus der Tretmühle heraus.
„Die Krise der Gegenwart besteht darin, dass alles, was dem Leben Sinn und Orientierung geben könnte, wegbricht … Wir schwören zeitintensiven Praktiken wie Treue, Verantwortung, Versprechen, Vertrauen und Verpflichtung ab. Vorläufigkeit, Kurzfristigkeit und Unbeständigkeit beherrschen das Leben.“ Auch wenn man das für sich selbst relativieren möchte, im Ganzen stimmt die Diagnose: Der Kapitalismus bringt mit der allgegenwärtigen Entfremdung einen „Seinsmangel“ hervor. Selbst Urlaub und Feste bringen uns unter Druck, weil es so schwierig ist, aus dem Laufrad auszusteigen.
Aber der Verlust unseres kontemplativen Vermögens ist folgenreich. Schon werden Achtsamkeitskurse gegeben, um wenigstens für Momente Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Aber glücklich können wir nur sein, wenn wir wirklich zur Ruhe kommen. Lauschen, schauen, staunen, einfach nur dasitzen und nichts tun, kommt es uns nicht sogar ungebührlich vor. „Niemand lauscht. Jeder produziert sich.“ Stimmt. Und statt den Ratschlägen des Autors zu folgen, war ich von ihnen dermaßen bewegt, dass ich schreibend dieses Buch loben wollte. Aber nun gehe ich in den Garten, auch wenn es zum ruhig dasitzen bei mir nicht reicht. Ich pflücke Stachelbeeren und nehme das als Kontemplation.
Byung-Chul Han: Vita contemplativa oder Von der Untätigkeit. Ullstein Verlag, 127 S., geb., 22,99 €.