Im „Tsunami der Informationen“
Byung-Chul Han macht Philosophie zum Kunstwerk
Von Irmtraud Gutschke
Das Schreiben muss beglückend gewesen sein, denn so wirkt auch die Lektüre – umso mehr, weil die melodische, rhythmische Sprache des 1959 in Südkorea geborenen Autors einen eigenen Zauber hat. Byung-Chul Han macht Philosophie zum Kunstwerk, indem er sich von Gespür und Erleben tragen lässt in die Weite der Gedanken. Seinem Wissen vertrauend, genießt er das Intuitive seiner Assoziationen und vergisst nie, dass sein Text gerade im Nachvollziehbaren für andere erst seine Bedeutung gewinnt. Immer liegt seinen Überlegungen ein gesellschaftliches Problem zugrunde, das individuell beunruhigen kann, das er indes erklärt und durchschaubar macht. Denn: Was ich begreife, das beherrscht mich nicht mehr. Gesellschaftswissenschaft soll hier persönlicher Befreiung dienen.
So war es schon in seinem berühmten Essay „Müdigkeitsgesellschaft“ von 2010. Einfach nur deshalb griff ich wohl damals danach, weil ich Überlastung allzu gut kannte. Des Autors sprachmächtig präzise Art, die Mechanismen der Selbstoptimierung im Neoliberalismus zu durchleuchten, hat mich aufmerken lassen, obwohl manches in seiner Verallgemeinerung auf mich gar nicht zutraf. Auch „Transparenzgesellschaft“ und „Agonie des Eros“ (beide 2012) wirkten umso nachhaltiger, weil sie mich in eine Diskussion mit dem Text gezogen haben, mit dem Ergebnis, die eigene Person auch im Widerspruch zu gesellschaftlichen Tendenzen zu erkennen und im Durchdenken Bestärkung zu erlangen.
Im vorliegenden Buch knüpft Byung-Chul Han an seinen Essay „Im Schwarm. Ansichten des Digitalen“ von 2013 an; manches wiederholt sich auch. Wobei „Undinge“ mit dem Geruch des Gespenstischen locken; ein Kapitel heißt auch „Gespenster“. Mit etwas Absurdem, Widersinnigen wird der Begriff ja landläufig in Verbindung gebracht. Die Internetseite „unding.de“, die von Computern getroffene Entscheidungen anzufechten hilft, kommt zwar nicht vor, aber dass der „Tsunami der Informationen“, die Welt nicht nur erhellen, sondern auch verdunkeln kann, ist Gegenstand anregender Reflexion. „Undinge“ schieben sich vor die Dinge. Der Autor beobachtet eine „Gamifizierung der Lebenswelt“ und registriert, was dabei verloren geht. Wie viele Denker der Vergangenheit haben sich schon mit den Kehrseiten dessen befasst, das wir Fortschritt nennen! Er zitiert sie herbei.
Bittere Bestandsaufnahme: Die Welt im „digitalen Schein totaler Verfügbarkeit“ verliert ihren Zauber. Der Gedächtnisraum gleicht immer mehr „einem Speicher“. Zusammenhänge können verschwimmen, Wahres und Falsches sind nur schwer auseinanderzuhalten. Wenn wir uns ein Leben ohne Smartphone nicht mehr vorstellen können, gibt es da einen Bezug zu kapitalistischer Herrschaft? Was unterscheidet künstliche Intelligenz vom menschlichen Geist? Welche Folgen hat dieser Prozess für die zwischenmenschlichen Beziehungen und für die Kunst? Es gibt im Buch großartige Passagen über Poesie, Malerei und Fotografie. Was geschieht, wenn alle reden wollen und niemand mehr zuhören will, wenn die Zeit dafür zu fehlen scheint, wenn sich in der Selbstproduktion niemand mehr zurücknehmen kann? Schließlich: Wie kann man sich diesem Druck entziehen? So wie Byung-Chul Han in seinem Buch „Lob der Erde“ (2018) über seinen Garten schrieb, lobt er hier – überraschend – eine Jukebox, die ihm wieder einmal die „Magie der Materie“ vor Augen führt. Recht hat er: „Glück ist ein Ereignis, das sich jeder Berechnung entzieht.“ Und die Lektüre bestärkt im Eigensinn, trotz allem dorthin unterwegs zu sein.
Byung-Chul Han: Undinge. Umbrüche der Lebenswelt. Ullstein Verlag, 125 S., geb., 22 €.