Vom Staunen und Wissen-Wollen
„Was für ein Zufall!“: Bernhard Weßling zieht uns ins Nachdenken „über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit“
Irmtraud Gutschke
Ein Sachbuch und zugleich eine mitreißende persönliche Erzählung. Denn der Autor ist in seinem Leben mit unerhört vielen Zufällen in Berührung gekommen, die ihn immer wieder in seinen Forschungen vorangebracht haben. Fügungen? So würde es Dr. Bernhard Weßling nicht nennen wollen, das klingt ihm zu sehr nach Metaphysik. Er ist mit Leib und Seele Naturwissenschaftler. Als Chemiker hat er nicht nur praktische Produkt- und Verfahrungsentwicklung betrieben, sondern sich auch theoretisch in Kolloidchemie und -physik vertieft – in Bezug auch auf die Forschungen des russisch-belgischen Nobelpreisträgers Ilya Prigogine (1917-2003) zur Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik. Das hört sich ziemlich schwierig an. Aber Bernhard Weßling kann Schwieriges verblüffend einfach erklären. Was mich faszinierte, war nicht nur das Laien-Lesern zugewandte verständliche, lebendige Erzählen, sondern vor allem auch die darunter liegende Haltung: dieses Staunen und Wissen-Wollen, die unablässige Neugier, die ihn wahrscheinlich nie verlassen wird. Was heißt hier „nie“, könnte er einwenden. Dass unser Leben endlich ist, gehört zu den Gesetzmäßigkeiten der Natur, die wir immer besser erkennen, wobei wir uns auch auf Nicht-Vorhersehbares gefasst machen müssen. Selbst wenn wir mit „Gleichgewicht“ positive Emotionen von Stabilität verbinden, absolutes Gleichgewicht bedeutet Erstarrung, Tod. Unser Leben vollzieht sich in einem Nicht-Gleichgewichtssystem, allein schon, weil wir von ständigem Energiezufluss abhängig sind.
Ein entdeckungsfreudiges Kind aus einer eher armen achtköpfigen Familie: „Mich trieb die Warum-Frage um.“ Nach seinem Chemiestudium führte ihn der Zufall in ein Ingenieur-Beratungsbüro, dann in das Entwicklungslabor eines Chemieunternehmens. Später gründete er eine eigene Tochterfirma. Er entwickelte ein neuartiges Verfahren in der Kunststofftechnologie und ließ es patentieren. Es ging um ein Polymer, das elektrisch leitfähig ist. Kunststoff mit metallischen Eigenschaften also, wichtig für die Leiterplattenindustrie. Von 2005 bis 2017 war er in China tätig, hat dort auch Chinesisch gelernt. Immer wieder fügt er in sein Buch „ChengYu“ ein, Sprichwörter aus vier chinesischen Schriftzeichen, hinter denen sich uralte Weisheitsgeschichten verbergen. An vorliegendem Band hat er sieben Jahre gearbeitet. Vorher veröffentlichte er „Der Ruf der Kraniche. Expeditionen in eine geheimnisvolle Welt“. Wie kommt ein Chemiker zur Kranichforschung? Weil er gern in der Natur unterwegs ist und von diesen grazilen „Tänzern der Lüfte“ fasziniert war.
Das Titelbild erinnerte mich an ein Pilzmyzel, aber es zeigt das Delta des Flusses Lena in Sibirien. Wenige Seiten später sieht man den Cirrusnebel, der wie eine turbulent wirbelnde Rauchfahne aussieht, „allerdings mit einem Durchmesser von über einhundert Lichtjahren“. Von reversiblen und irreversiblen Prozessen ist zu lesen, von spontaner Selbstorganisation offener Systeme, was mir in der Gesellschaftstheorie einleuchtend ist, aber es zeigt sich eben auch in der Chemie. Und schließlich geht es um das Wesen der Zeit und um die Frage, warum wir sie so unterschiedlich wahrnehmen. Chemie, Physik, Biologie, Gehirnforschung, Erkenntnistheorie, Philosophie, Wirtschaft, das Universum – wie der Autor Wissensbereiche zu verbinden sucht, führt das Buch hin zur Erklärung eines Weltbilds, das man beim Lesen mit dem eigenen dialektischen Denken vergleicht, was bereichernd und vergnüglich ist.
Dabei sind manche landläufigen Vorstellungen zu korrigieren. Wenn zum Beispiel von Energieerzeugung die Rede ist, kann es doch nur Energieumwandlung sein, bei der immer Abfallenergie, Entropie, entsteht. Beklagt wird, dass etwas nicht im Gleichgewicht sei; als wünschenswert erscheint es, etwas ins Gleichgewicht zu bringen. Was für eine Illusion! Alles befindet sich in Bewegung und miteinander im Zusammenhang in hochkomplexen Strukturen – „keine zwei Schneeflocken sind wirklich identisch“, jede Galaxie ist einmalig. Und „für jedes System, das man wirklich tief verstehen möchte, muss man ja herausfinden, welcher Art die Wechselwirkungen sind, die die Strukturen und die Dynamik erzeugen“. Wenn da zwei oder mehrere unabhängige Kausalketten zeitlich und örtlich zusammentreffen, kommt es eben zu jenen Ereignissen, die wir Zufall nennen, so wir sie überhaupt bemerken. Da gefiel mir der Begriff „Serendipität“, der die „Kunst“ meint, „etwas Unerwartetes, was einem bei der Suche nach anderen Dingen zufällig begegnet, als relevant zu erkennen“. Im positiven oder negativen Sinne. Was festgefahren scheint, kommt in Bewegung.
Bernhard Weßling: Was für ein Zufall! Über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit. Verlag Springer Vieweg, 240 S., br., 24,99 €.